
Wenn Sie den Namen Yusuke Narita bisher nicht kennen, ist das keine Bildungslücke. Das könnte sich allerdings ändern. Yusuke Narita ist ein japanischer Wirtschaftswissenschaftler, der an der berühmten Yale-Universität in den USA lehrt. Eine Äußerung von ihm sorgt derzeit weltweit für Empörung.
In einer Talkshow hatte Narita auf die Frage, wie Japan das Problem der extremen Überalterung der Gesellschaft lösen könne, laut Spiegel gesagt: „Ich habe das Gefühl, dass die einzige Lösung ziemlich klar ist. Ist es am Ende nicht Massenselbstmord und Massen-Seppuku älterer Menschen?“
Der weltweite Aufschrei der Empörung
Seppuku, das ist dieser ritualisierte, über Jahrhunderte in Japan verbreite Selbstmord. Ein Samurai, der durch eine Pflichtverletzung sein Gesicht verloren hatte, konnte so seine Ehre und die seiner Familie wiederherstellen. Ehrenhafter Massen-Selbstmord als Lösung unserer Demografie-Probleme?
Der Aufschrei der Empörung über diesen Vorschlag des 38-jährigen Yale-Professors, der seine Aussage inzwischen wohl relativierte, ist verständlich und berechtigt. Es verbietet sich einfach, einen solchen Gedanken auch nur zu denken, und erst recht, ihn öffentlich auszusprechen. Damit ist eine Grenze überschritten, die kein zivilisierter Mensch überschreiten darf.
Schattenseiten einer hohen Lebenserwartung
So verwerflich die Äußerung von Yusuke Narita auch ist, hat sie doch eines bewirkt: Sie erinnert uns auf drastische Weise daran, dass es nicht nur eine gute Nachricht ist, sondern auch Schattenseiten hat, wenn Menschen heute deutlich länger leben als noch vor 30, 50 oder 100 Jahren.
Inzwischen sind – zwar nicht 29,9 Prozent wie in Japan – aber immerhin rund 22,2 Prozent der deutschen Bevölkerung älter als 65 Jahre. Tendenz steigend. Dank sehr guter Lebensbedingungen und medizinischer Versorgung klettert die Lebenserwartung von Jahr zu Jahr weiter nach oben. Sie liegt inzwischen für Frauen bei 83,4 und für Männer bei 78,5 Jahren.
Eingeschlafene Diskussion über demographischen Wandel
Vor 15, 20 Jahren war die Überalterung der Gesellschaft schon mal ein großes Thema. Überall war vom „demographischen Wandel“ die Rede. Ich habe den Eindruck, dass diese Diskussion weitgehend eingeschlafen ist. Wir haben uns achselzuckend weggeduckt, ein hilfloses „wird schon“ geräuspert und uns anderen Themen zugewandt.
Die Erfahrung zeigt allerdings: Kein Problem verschwindet, indem wir es ignorieren. Wenn wir ehrlich sind, macht uns die Überalterung doch schon jetzt massiv zu schaffen. Nur zwei Gedanken dazu:
Die Rente ist so auf Dauer nicht mehr finanzierbar
1.: Der eklatante Mangel an Pflegekräften in der Kranken- und Altenpflege hängt nicht nur damit zusammen, dass Pflegekräfte fehlen, sondern auch damit, dass die Zahl der Pflegedürftigen massiv gestiegen ist. Ihre Zahl hat sich zwischen 1999 und 2019 von 2,04 auf 4,13 Millionen mehr als verdoppelt.
2.: Die Rente in der bisherigen Form ist auf Dauer nicht mehr finanzierbar. Auch wenn das mit Rücksicht auf die nächste Wahl kein Politiker und keine Politikerin so deutlich sagt, ist das offensichtlich.
Das belegen allein die beiden Notbremsen, die in den vergangenen Jahren gezogen wurden, und doch nicht ausreichen werden: Die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre zum einen. Und zum anderen die gleichzeitige Absenkung des Rentenniveaus: 1990 bekam man nach 45 Beitragsjahren noch 55,1 Prozent des durchschnittlichen Jahreslohns als Rente, jetzt sind es nur noch 48,3 Prozent.
Es geht um mehr als um wirtschaftliche Gründe
Wir werden uns diesem Thema zuwenden müssen, ob wir das wollen oder nicht. Und das nicht nur aus den beiden oben angeführten, eher wirtschaftlichen Gründen. Es geht – noch viel entscheidender – um ganz existenzielle Aspekte. Dabei müssen wir zwar nicht – wie Yusuke Narita – über Massenselbstmord als Lösung reden, sehr wohl aber über extrem sensible Fragen. Ist wirklich alles wünschenswert, was inzwischen medizinisch machbar ist? Anders gefragt: Ist eine ohne Rücksicht auf Verluste – vor allem an Menschlichkeit und Würde – verlängerte Lebenszeit wirklich immer die beste Wahl?
Auf der Flucht vor den entscheidenden Fragen
Wir reden viel über medizinischen Fortschritt, neue Therapien, neue Behandlungskonzepte, neue OP-Möglichkeiten und gaukeln uns so vor, dass wir irgendwann unsterblich sein werden. Unterbewusst verdrängen wir so den Tod aus unserem Leben.
Wir ergreifen vor den wirklich entscheidenden Fragen die Flucht: Wie stelle ich mir ein würdevolles Leben im Alter vor? Wie will ich sterben, wenn das Leben gelebt ist? Ist es zuweilen nicht besser, in Würde zu sterben, als die Lebensspanne um jeden Preis zu verlängern? Wie lerne ich zu akzeptieren, dass der Tod ebenso zum Leben dazugehört wie die Geburt?
Wenn ich mit alten Menschen rede, höre ich oft den Satz: Alt werden will jeder, alt sein will keiner. Wir alle werden, wenn es gut läuft, eines Tages alt sein. Das Thema kommt also auf uns zu. Vielleicht erst in Jahrzehnten, vielleicht schon in wenigen Jahren, aber es kommt.