Auf der Vorderbühne des Bochumer Schauspielhauses wird in „Frankenstein“ in gut 100 unterhaltsamen Minuten nicht nur die immer noch aktuelle Geschichte von Victor Frankenstein erzählt, jenem Ingolstädter Arzt, der in prometheischem Geist eine Kreatur erschafft, deren Unglück auf ihn und seine Familie gewaltvoll zurückfällt, sondern auch dessen kaum weniger mythische Entstehungsgeschichte.
Denn was nicht unbedingt im kanonischen kulturellen Wissen über den Horror-Komplex „Frankenstein“ präsent ist: Die Idee entstammt dem Teenager-Kopf der nicht ganz 19-jährigen Mary Godwin, die mit dem anderweitig verheirateten Partner Percy Shelley, ihrem gemeinsamen Baby, und dem Dichter Lord Byron einen Sommer am Genfer See verbringt. Es ist jener von 1816, dem Jahr, das aufgrund eines welterschütternden Vulkanausbruchs im Vorjahr auf Indonesien als Jahr ohne Sommer in die Geschichte einging.

An dieser Stelle öffnet sich bei der Premiere am Freitag der Vorhang, drei Gestalten tanzen in kunterbunten psychedelischen Kostümen (Andrijana Trpković) zu repetitiver Musik (Daniel Nerlich) über die Bühne. Ja, Mary (Karin Moog), Percy (Oliver Möller) und Byron (Victor IJdens) nehmen auch Drogen, sind Avantgarde. Da das Wetter aber unschön ist, kommt man zum Entschluss, zu dichten, gruselig soll es sein, es ist die Spätzeit der Gothic Novel.
Allein Mary gelingt es, eine Geschichte zu erfinden. Und die kommt nun zur „improvisierten“ Aufführung. Shelly spielt das Monster, Byron ist Frankenstein. Karin Moogs Mary dirigiert die eitlen Künstler. Die Bühne ist fast leer, allein ein Arbeitstisch, dessen Arbeitsfläche als Projektion den gesamten Bühnenhintergrund einnimmt, und ein paar Hocker dienen als Requisiten.
Tragische Gefühlswelten
Was Moog von dort auf die Hinterwand bringt, gibt der Inszenierung imposant Kontur. Ob sie nun skizzenhaft das Geschehen verortet, oder die Geschichte mithilfe von Folien als Scherenschnittkabinett illustriert, es schafft perfekte Atmosphäre für die Geschichte.
Da gerät die wirkmächtige Geschichte, die im 20. Jahrhundert mit unzähligen Variationen durch die Popkultur, insbesondere durch die Filmgeschichte mäanderte, in den Hintergrund. Möller und IJdens spielen sich rasant durch grundsätzlich tragische Gefühlswelten der Protagonisten (Doktor Frankenstein: Stolz, Wahn, Scham, Angst, Verzweiflung; Kreatur: Angst, Erkenntnis, Wut, Verzweiflung), ohne sich allzu weit vom Geist der Scharade zu entfernen.
Spaß überwiegt
Dazu gehört, aus der Rolle zu fallen. Als das Monster nach einer Braut, einer Frau, verlangt, brüllt sein Macher: „Du heteronormatives Scheusal!“.
Nebeneffekt der Inszenierung: Inhaltliche und ethische Vertiefungen und Aktualisierungen bleiben weitgehend auf der Strecke, sieht man ab von einem aufgepfropft wirkenden Monolog über das Überführen des Körpers ins Internet. Am Ende überwiegt der Spaß. Stehende Ovationen durch die Überzahl des Publikums.
Weitere Aufführungen
Termine: 9. / 20. / 29. 11.; Karten: Tel. (0234) 33 33 55 55.
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