Viele Jahrzehnte blieb ein großer Skandal in NRW unentdeckt – das Schicksal der Verschickungskinder. Von 1950 bis 1990 nahm die Verschickung von etwa 1,8 Millionen Kindern in Kurheime ihren Lauf und wurde für viele zu ihrem Schicksal. Silvia Eggers (74) als damals sechsjährige Betroffene erinnert sich: „Ich sollte sechs Wochen zur Kur nach Bad Sachsa, da ich zu dünn war. Das waren die schrecklichsten sechs Wochen meines Lebens.“
Die Reise und den Aufenthalt hatten ihr die Eltern positiv geschildert. Nach der Untersuchung beim Arzt und der Kureinstufung freute sie sich darauf, doch es kam anders.
In Bad Sachsa (Harz) angekommen, mussten sich die Kinder in einer langen Reihe aufstellen. Die mitgebrachten Sachen wurden sofort durchsucht. Süßigkeiten wurden weggenommen, danach die Bekleidung eingesammelt und in einem großen Schrank verschlossen. Schnell stellte das kleine Mädchen fest, dass im Kinderheim ein „aggressiver Umgangston und eine eisige Kälte herrschten. Ganz anders als zu Hause“.

Später merkte Sylvia Eggers: Hier wurde mit Gewalt und Drohungen die Angst der Kinder geschürt, um sie gefügig zu machen. Wenige Tage nach der Ankunft entdeckte die damals Sechsjährige, dass ein anderes Mädchen ihr Sonntagskleidchen trug. Als sie dies anmerkte, wurde sie angeschrien und war ab dann im Fokus der Erzieher.
Mit Gesicht zur Wand schlafen
Nach dem Mittagessen waren zwei Stunden Mittagsschlaf vorgeschrieben und hierbei - wie auch in der Nacht - mussten die Kinder mit dem Gesicht zur Wand schlafen. Wer dies nicht tat oder nicht ruhig blieb, wurde bestraft. Der nächtliche Gang zur Toilette war verboten. Aus Angst vor der Strafe urinierten die Kinder deshalb nachts ins Bett. Sie mussten dann am folgenden Tag allen Kindern ihr durchnässtes Bettlaken zeigen. Den Erziehern dagegen ging es gut, wie Sylvia Eggers später entdeckte. Die Aufsichtspersonen aßen nachts die konfiszierten Süßigkeiten der Kinder auf.
Wer die Berichte auf der Internetseite „Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW e.V.“ liest, kann das Leid der Kinder nachvollziehen. Es ist heute schwer, sich vorzustellen, welches Unrecht sie erlitten. Unter anderem das damalige Obrigkeitsdenken ermöglichte es den Handelnden, ihre „schwarze Pädagogik“ so lange aufrechtzuerhalten.
Essen bis zum Brechreiz
Primäres Ziel der Kuraufenthalte war die Gewichtszunahme der Kinder. Auch die sechsjährige Silvia blieb nicht verschont. Ihr Untergewicht war der Kurgrund und jetzt hatte sie gefälligst zu essen. Beim morgendlichen Brei, „einer gräulichen, zähen Mischung aus Hafer und anderen Beimischungen musste man sich schon überwinden“, erzählt sie im Rückblick. Was Sylvia jedoch gar nicht mochte, waren „Rote Beete“ – und die gab es in Bad Sachsa sehr häufig.

Für sie war dieses Essen jedes Mal eine Überwindung bis hin zum Brechreiz. Sie durfte den Essenssaal jedoch erst verlassen, wenn der Teller leer gegessen war. „Die Heimleiterin setzte einen großen Schäferhund zur Beobachtung vor mich. Der Hund knurrte mich jedes Mal an, wenn ich mich bewegte. Ich hatte schreckliche Angst vor dem großen Tier und verschlang das Zeug“.
Post verweigert
Einmal konnte sie das Essen nicht bei sich behalten. „Das war mein schlimmster Tag“, erinnert sie sich sichtlich ergriffen. Sie erbrach – da hielten die Betreuer ihren Kopf fest, öffneten gewaltsam ihren Kiefer und ihr wurde das Erbrochene zwangsweise wieder zugeführt - bis der Teller leer war.
Weil sie beim nächsten Wiegen nicht zugenommen hatte, wurde Sylvia Eggers dann das Vorlesen der elterlichen Post verweigert. Heimweh, wiederkehrende Demütigungen und Drohungen, dass sie nicht mehr nach Hause dürfe, wenn sie nicht lieb sei, zogen sich durch die sechs Wochen Aufenthalt.
Treffen in Dorsten
Lange Zeit verdrängte Silvia Eggers, was sie als kleines Kind in Bad Sachsa erlebt hatte. Ein Artikel in unserer Zeitung über Verschickungskinder rief ihre Erinnerungen wieder wach.
Im vergangenen Jahr besuchte sie deshalb in Dorsten den ersten Begegnungstag der Verschickungskinder. Sie traf dort viele Gleichgesinnte und eine Frau, mit der sie ihre belastenden Erinnerungen an das Kinderheim teilen konnte.
Hinweis: Dieser Artikel wurde am 19. September erstmals veröffentlicht.