Es sieht aus wie eine Szene aus dem absurden Theater: Am Vorabend der Leerung zieht Nicole Siegling eine ihrer vier Mülltonnen durch das heimische Wohnzimmer. Schmutzige Räder rollen über das gepflegte Parkett. Vorbei geht es an Fernseher, Familienfotos, Esstisch und Sitzgarnitur. Direkt daneben spielt der einjährige Sohn Ben im liebevoll dekorierten Laufstall.
„Für uns ist das die reine Schikane“, sagt die 29-jährige Arzthelferin in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung: „Früher durften unsere Tonnen einfach vor dem Haus stehen bleiben, doch jetzt werden wir vom Ordnungsamt mit Bußgeldbescheiden bedroht, wir wissen einfach nicht mehr, was wir machen sollen.“

Mit ihrem Lebensgefährten und ihrem kleinen Sohn bewohnt Nicole Siegling ein Reihenmittelhaus aus der Vorkriegszeit in Marl-Brassert. Vier Reihenhäuser jeweils mit eigenem Garten bilden äußerlich zusammen eine Einheit. Zur Straße hin endet das eigene Grundstück direkt an der Außenmauer. Schon am Klinkerstein beginnt der Bürgersteig. Hinter dem Haus trennen durchgehende Zäune den eigenen von den Nachbargärten. Und am hinteren Ende des Gartens gibt es kein Tor und keinen Weg. Dort verläuft eine Mauer und direkt dahinter die steile Böschung der Zechenbahntrasse.
„Ich schaffe es manchmal nur mit letzter Kraft“

Es gibt also keinen Ausweg. Ob Restmüll- oder Papiertonne, Braune oder Gelbe Tonne: Wenn die Leerung ansteht, zieht Nicole Siegling das Müllgefäß vom hinteren Ende des Gartens über Waschbetonplatten bis zu den vier Stufen der unteren Terrasse. „Ich schaffe es manchmal nur mit letzter Kraft, die schweren Tonnen die Stufen hochzuziehen“, klagt die junge Mutter.
Doch das ist noch nicht alles. Vier weitere Stufen zur oberen
Terrasse müssen überwunden werden, um den Garteneingang zum Wohnzimmer zu erreichen. Hinter dem Wohnzimmer geht es im engen Flur wieder vier Treppenstufen hinunter Richtung Haustür. „Es ist dauerhaft nicht möglich, die schweren Tonnen hier zu bewegen, ohne Treppen, Putz, Türzargen und Tapeten im Haus zu beschädigen, die ganze Situation geht einfach gar nicht“, so Nicole Siegling.

Vor zwei Jahren hatte die Brasserterin nach eigenen Angaben zusammen mit ihrem Lebensgefährten das Reihenhaus gekauft. Zunächst habe es mit den Tonnen vor dem Haus kein Problem gegeben. Doch dann wurde das Ordnungsamt auf den Fall aufmerksam. Und in einem Schreiben vom 7. August 2024 verlangt auch der Zentrale Betriebshof (ZBH) der Stadt die umgehende Entfernung der Abfallbehälter vom Bürgersteig und kündigt bei Zuwiderhandlung Bußgeldbescheide durch das Ordnungsamt an.
Keine Genehmigung für Dauerplatz auf dem Bürgersteig
Nicole Siegling und ihr Lebensgefährte dagegen erbitten von der Stadt ein Sondernutzungsrecht für ein kleines Stück Bürgersteig vor dem Haus, auf dem die Tonnen dann dauerhaft stehen könnten. „Wir würden auch gerne auf eigene Kosten eine solide Tonnenbox aufstellen, damit das Ganze ordentlich aussieht und ins Straßenbild passt“, bietet die Brasserterin an.

Dazu ist das Ordnungsamt der Stadt jedoch bislang nicht bereit. Auf Anfrage unserer Redaktion zu dem kuriosen Fall teilt die Stadt schriftlich mit: „Gemäß Paragraf 18 Straßen- und Wegegesetz NRW stellt die Benutzung einer öffentlichen Verkehrsfläche über den Gemeingebrauch hinaus ohne entsprechende Sondernutzungserlaubnis eine Ordnungswidrigkeit dar.“ Zudem betont die Stadt, dass ein entsprechender Antrag von Nicole Siegling und ihrem Lebensgefährten bereits im Jahr 2023 abgelehnt wurde.

Die beiden Reihenhausbesitzer aus Brassert verstehen die Welt nicht mehr. Sie hoffen, dass sich noch mehr Menschen in Marl melden, die ein vergleichbares Problem haben. „Will die Stadt uns wirklich weiter zwingen, unsere Mülltonnen durch unser Haus zu ziehen?“, fragt sich die junge Mutter fassungslos: „Das ist doch absolut abartig und ekelhaft: Mein kleiner Sohn krabbelt durchs Wohnzimmer und daneben krabbeln die Maden, die von der Biotonne gefallen sind.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 26. August 2024.
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