Wie kann es dazu kommen, dass 12-, 13-jährige Mädchen zu Mörderinnen werden? So alt sind die mutmaßlichen Täterinnen im Fall der getöteten Luise F. aus Freudenberg. Darüber sprachen wir mit Dr. Christian Lüdke (62) aus Lünen, einem der bekanntesten Kriminalpsychologen Deutschlands.
Was er sagt, ist starker Tobak, denn Lüdke spricht Klartext. Er redet von „Arschlochkindern“ und warnt vor einer neuen Dimension der Gewalt, die sich auch im Fall der zwei Mädchen widerspiegle, die Luise getötet haben sollen.
Die entscheidende Frage, die niemand stellt
„Man kann im Grund mit einer einzigen Frage herausfinden, ob ein Kind auf die schiefe Bahn gerät, kriminell wird oder brutale Gewalttaten begeht“, sagt Lüdke und wundert sich: „Diese Frage finden Sie in keinem Anamnesebogen, bei keinem Arzt, keinem Therapeuten. Niemand stellt Ihnen diese Frage.“ Er aber stelle diese Frage seit 30 Jahren: „Die Frage lautet: Fühlst du dich geliebt?“
Wenn jemand mit Ja antworte, könne man sich innerlich beruhigt zurücklehnen, denn: „Es ist die wichtigste Grunderfahrung, die ein Kind machen kann: bedingungslos geliebt zu werden.“ Im besten Fall erlebe ein Kind diese bedingungslose Liebe in der Ursprungsfamilie.
Wenn ein Kind wisse, dass es einen einzigen Menschen gibt, der es liebe, egal was es anstelle, dann könne im Grunde nichts mehr schief laufen, sagt Lüdke und ergänzt: „Leider ist das bei vielen nicht der Fall. Mit großer Wahrscheinlichkeit auch bei diesen beiden Täterinnen nicht, zumindest bei der einen, der Haupttäterin, nicht.“
„Der Mann ist sexuell und sozial ein Idiot“
Dass Mädchen überhaupt durch Gewalttaten auffallen, sei auf den ersten Blick ungewöhnlich. „Ich war viele Jahre in der Männerforschung tätig. Man kann das Ergebnis so zusammenfassen: Der Mann ist sexuell und sozial ein Idiot oder die Welt hat eine unheilbare Erkrankung und das ist der Mann, denn: Üblicherweise werden solche brutalen Gewalttaten zu 90, 95 Prozent von Männern begangen“, sagt Lüdke.
Eine ganz neue Dimension der Gewalt
Dass hier Kinder, Mädchen, zu Täterinnen geworden seien, zeige eine neue Dimension, die man auch in der aktuellen Kriminalstatistik ablesen könne: „Das erste Mal haben wir in der Altersgruppe der 14- bis 21-Jährigen einen Zuwachs von 40 Prozent von schweren Körperverletzungen gegenüber Gleichaltrigen. Das hat es in der Form noch nie gegeben.“
Schon lange habe es eine gefühlte Zunahme gegeben. Jetzt aber sehe man in den Zahlen definitiv einen drastischen Anstieg der Fälle von Gewalt, und das mittlerweile auch bei Mädchen.
Wie das Gefühl der Ohnmacht zur Gewalt führt
Dass es überhaupt zu Gewalt kommt, erklärt der Psychologe mit einem Gefühl von Ohnmacht. „Egal, ob es ein Kind, ein Jugendlicher oder Erwachsener ist: Wer Gewalt ausübt, fühlt sich innerlich sehr ohnmächtig“, sagt Lüdke. Die Gewalt verwandle das Gefühl von Ohnmacht in ein kurzzeitiges Gefühl von Allmacht. „Wenn ich einen Menschen demütige, erniedrige, mobbe, auf ihn einschlage, dann habe ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl: Ich bin stark, ich habe Macht, ich werde wahrgenommen.“ Diese Erfahrung, dass man es immer und immer wiederhole.
„Man wird nicht als Mörder geboren und man wird auch nicht über Nacht zur Täterin“, sagt Lüdke. So etwas habe immer eine lange Vorgeschichte. Stichworte seien da: keine bedingungslose Liebe, keine Regeln gelernt, keine Werte, die vorgelebt wurden.
„Jeder Mensch kennt in seinem Umfeld ein Arschlochkind“
Und dann wird Lüdke sehr, sehr deutlich: „Ich benutze in meinen Vorträgen seit vielen Jahren immer eine Metapher. Diese Metapher ist sehr böse. Die ist unverschämt, die ist gemein, die ist politisch nicht korrekt, aber ich benutze sie trotzdem, immer und immer wieder. Das ist die Metapher von den Arschlochkindern. Ich glaube, jeder Mensch kennt mindestens eins von solchen Arschlochkindern in seinem Umfeld. Das sind Kinder, die machen es einem echt schwer, sie lieb zu haben.“
Wissenschaftlich betrachtet träten diese „Arschlochkinder“ in der dritten Klasse in Erscheinung, also im Alter von acht Jahren. Dann würden sie feststellen, dass sie ein ganz starkes Defizit haben. „In der dritten Klasse erleben die: Da sind andere Väter, Mütter, die holen ihre Kinder ab. Bei mir aber steht da keiner, da kommt keiner.“ Das sei der Moment, in dem sie spürten, dass sie „ein ganz tiefes, ungestilltes Bedürfnis haben, eben bedingungslos geliebt zu werden.“
Wer sich nicht geliebt fühlt, will wenigstens gehasst werden
Und weil sie dieses Gefühl bedingungsloser Liebe nicht haben, würden sie innerlich umschalten und ihr eigenes Drehbuch schreiben: „Wenn ich schon nicht geliebt werde, dann will ich wenigstens gehasst werden und das mit der gleichen Intensität.“
Die Folge laut Lüdke: Solche Kinder fangen an, anderen Kindern sehr wehzutun. Er kenne eine Grundschullehrerin, die habe Angst vor brutalen Grundschülern. „Da beginnt quasi schon diese Karriere, im achten Lebensjahr.“ Und leider gebe es darunter mittlerweile auch mehr Mädchen als früher.
Die Folgen von Corona
Lüdke weist aber auch noch auf andere Faktoren hin, die in dem Fall der getöteten Luise eine Rolle spielen könnten. Corona zum Beispiel. Dazu habe die Copsy-Studie in den letzten drei Jahren die psychischen Auswirkungen auf Kinder eben auch in der Altersgruppe 12 bis 21 untersucht. Lüdke: „Das Ergebnis: stille Mädchen, wütende Jungs. Mädchen werden in der Regel immer stiller, ziehen sich in die Innenwelt zurück, isolieren sich. Bei den Jungs fliegen die Fäuste und die Stühle. Das ist immer wieder das Muster.“
Inzwischen wisse man, dass diese Corona-Folgen erst der Anfang einer neuen Dimension sei: „Betroffen sind insbesondere Kinder, die es schon vor Corona schwierig hatten.“
„Mit elf Jahren wird das Gehirn wegen Umbau geschlossen“
Solange es ausgleichende Mechanismen gegeben habe, hätten sie das gut kompensieren können, so Lüdke: „Egal, ob das Treffen mit Freunden waren, Sport, Schule und anderes. Und plötzlich sind durch die ganzen Einschränkungen diese ganzen Mechanismen, die zu einer Stabilisierung führten, weggefallen. Und jetzt fangen die an, auffällig zu werden. Und das ist ganz sicher ein wichtiger Baustein auch bei diesen beiden Mädchen.“
Das sei keine Erklärung, aber eben ein Baustein in diesem Puzzle der Erklärungssuche. Hinzu komme der Faktor Pubertät: „Pubertät, das ist wie ein Brandbeschleuniger, das ist bei allen Jugendlichen so. Mit elf Jahren wird das Gehirn wegen Umbau geschlossen und öffnet wieder mit 21. Das ist so. In dieser Altersklasse sind Mädchen und Jungen Sklaven ihrer Hormone. Sie haben extreme Stimmungsschwankungen.“
Christian Lüdke fasst seine Einschätzung am Ende so zusammen: „Wenn Kinder Kinder töten, dann töten sie häufig ihre Peiniger. Vor ein paar Jahren gab es mal einen ähnlichen Fall in England, an den ich mich erinnere. Aber diese Tat von Freudenberg ist schon ein extrem krasser Fall, habe ich in der Form auch noch nicht erlebt. Vom Alter her, von dieser unfassbaren Brutalität und auch hinsichtlich des Planungsgrads. Das finde ich schon krass.“
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