Die Hektik und der Stress sind dem Büro von Matthias Landsberg anzusehen. Als diese Redaktion ihn auf das Thema Lehrer-Mangel anspricht, lädt der Schulleiter der Schillerschule und Sprecher von Unnas Grundschulen sofort zum Gespräch vor Ort. Ein Nerv ist getroffen.
Viele Zettel liegen verteilt über Landsbergs Schreibtisch in L-Form. Mittendrin liegt das Handy des Schulleiters. Auch auf seiner Smartwatch laufend neue Nachrichten ein.
Zeit für Smalltalk bleibt nicht. Sofort sprudelt es aus Matthias Landsberg heraus. „Es gibt keine Schule in Unna, die aus dem Vollen schöpfen kann“, sagt er. Aktuelle Daten der schwarz-grünen Landesregierung zeigen: 769,6 der 780,1 benötigten Lehrer-Stellen in der Kreisstadt seien besetzt. Das entspricht zwar einer Quote von 98,6 Prozent. Mit der Realität habe das allerdings kaum etwas zu tun.
Stattdessen klafft im Unterrichtsplan der Schillerschule ein großes Loch. Drei Lehrkräfte seien derzeit abgeordnet, zwei Lehrerinnen schwanger. Hinzu kommen am Donnerstag dieser Woche eine Sozialpädagogin und satte sechs Lehrer, die zusätzlich ausfallen. Dass ihm auch der Konrektor wegfalle, erwähnt Landsberg nur noch beiläufig.
Für 32 Unterrichtsstunden fehlen also die Menschen, die diese Stunden leiten sollen. In einem „kleinen System“, wie Landsberg sagt. 235 Schüler unterrichtet die Schule am Massener Hellweg aktuell.
„Wir haben keinen Puffer, so dass wir das auffangen könnten. Das müssen wir aus dem Bestand, der noch da ist, auffangen. Das kriegen wir eigentlich nicht mehr hin“, sagt der Schulleiter.
Das Bildungsministerium erfasst für die Schillerschule einen Gesamtbedarf an 14,20 Lehrkräften. Davon seien 14,12 Stellen besetzt. Wer hört, wie Landsberg die Liste der Ausfälle aufzählt, fragt sich, wer in Massen überhaupt noch unterrichtet.

Die Antwort: Vertretungskräfte. Sechs Stück seien davon aktuell an der Schillerschule aktiv. Es könnten aber auch sieben sein. So richtig sicher ist sich Matthias Landsberg derzeit nicht mehr.
Bei zwei langfristig ausfallenden Kollegen, die zuvor voll unterrichtet haben, seien es mal eben 56 Unterrichtsstunden pro Woche, die die Vertretungslehrer auffangen müssten. Den Plan dafür erstellt eine schwangere Kollegin von zuhause aus, die aktuell nicht unterrichten darf.
Lehrer-Mangel: Lehramtsstudenten „werden verbrannt“
Oft sind jene Vertretungslehrer Lehramtsstudenten. „Gerade die jungen Leute werden verbrannt. Sie werden einfach den Löwen zum Fraß vorgeworfen“, sagt Landsberg, auch mit Blick auf nicht minder anspruchsvolle Eltern.
Auswahl auf dem Markt gebe es nicht. Zuletzt hatte die Schillerschule drei Vertretungsstellen ausgeschrieben und genau drei Bewerbungen erhalten. Ablehnung sei aus Mangel an Alternativen keine Option.
Lehrer-Mangel: „Wir nehmen jeden“
„Wir nehmen jeden, der nicht schnell genug auf dem Baum ist, wenn er halbwegs geeignet ist“, sagt Landsberg. Zuletzt zählte da eine 24 Jahre alte Lehramtsanwärterin zu, die derzeit ihren Master macht.
Seit anderthalb Monaten ist sie dabei, nun müsse sie als nicht fertig ausgebildete Kraft Verantwortung für eine Klasse mit 29 Kindern übernehmen. „Das ist der Horror. Das will keiner machen“, sagt Landsberg. Er sei froh gewesen, dass alle Bewerberinnen zuletzt überhaupt einen pädagogischen Hintergrund gehabt hätten.
Das Schulministerium attestiert der Schillerschule eine sogenannte „Personalausstattungsquote“ von 99,5 Prozent. Dazu zählen auch „Sonstige Stellen“, wozu das Ministerium die erwähnten Vertretungsstellen zählt, erklärte es auf Nachfrage dieser Redaktion.
99,5 Prozent – also fast voll ausgestattet. „Auf dem Papier“, raunt Matthias Landsberg. Eine Zahl, die sich für den Schulleiter wie blanker Hohn lesen dürfte. „Wenn man nicht so ein frohes Gemüt hätte, wie ich es nun mal habe, würde man resignieren“, sagt er.
Lehrer-Mangel: Matthias Landsberg ist überrascht
Die Daten des Schulministeriums seien „nackte Zahlen, die nicht das wiedergeben, was tatsächlich ist“, so Landsberg. Zur Wahrheit gehört aber auch: Es sind weitaus mehr als die vom Land erfassten 14 Lehrer-Stellen, die die Schillerschule am Laufen halten.
Ende des vergangenen Schuljahres seien zu einer gemeinsamen Konferenz 54 Kollegen erschienen, erinnert sich Landsberg. „Da war ich selber überrascht“, sagt er.
Lehrer-Mangel an Schillerschule Unna unübersehbar
Das Kollegium sei aber nicht alleine für den Unterricht zuständig. Zusätzlich Sozialpädagogen, Integrationskräfte, Mitarbeiter der Offenen Ganztagsschule – die Liste der Einsatzbereiche ist lang. Vollzeit beschäftigt sind bei Weitem nicht alle Mitarbeiter.
Die Folgen des Lehrer-Mangels, der an der Schillerschule unübersehbar ist, sind vielfältig. Als Erstes leiden die Schüler. Lehrer unterrichten oftmals zwei Klassen gleichzeitig. Die Klassentüren stehen dann offen. „Der Lehrer läuft immer von links nach rechts“, sagt Landsberg.
Teilweise würden kleinere Klassen auch aufgeteilt und anderen Unterrichtsräumen zugewiesen. Dort erledigen die Schüler dann eigenverantwortlich vorgegebene Aufgaben.
Als Sportlehrer unterrichte er bis zu drei Klassen gleichzeitig – so wie an jenem Mittag, an dem wir uns zum Gespräch verabreden. Ausgerechnet dort ereignete sich auch noch ein Unfall. Und Matthias Landsberg hatte „ganz viel Theater“ mit einer Mutter, weil er sich nicht professionell gekümmert habe, berichtet er. Wer den Schilderungen von Landsberg lauscht, hört deutlich heraus: Sein Anspruch ist ein ganz anderer.
Lehrer-Mangel: Vertretungslehrer sind oft unbekannt
Hinzu kommt: Die Kinder, in der Grundschule sind sie in der Regel zwischen sechs und zehn Jahre alt, kennen die in vielen Fällen eingesetzten Vertretungslehrer nicht – und umgekehrt. Natürlich kann das auch einen Einfluss auf den Lernfortschritt haben.
Glücklich ist Landsberg dagegen darüber, dass fast jeder Klasse eine zusätzliche Unterstützung, etwa in Form einer Integrationskraft, zur Verfügung stehe. „Diese Kräfte sind aber nicht berechtigt zu unterrichten“, sagt er. Zwischen den Zeilen ist genug Raum zur Interpretation, dass die Realität nicht nur an der Schillerschule anders aussehen könnte. Schließlich kennen die Integrationskräfte die Klassen und deren Bedürfnisse meistens gut.

Für Landsberg bedeutet die dünne Personalsituation einen Mehraufwand. Verwaltungsstunden werden zu Unterrichtsstunden, sind aber natürlich nicht aus der Welt. Unterricht, Förderstunden oder Arbeitsgemeinschaften zu kürzen, seien keine Optionen – ebenso wenig wie dem Kollegium Überstunden aufzubrummen. „Die Erfolge, die wir haben, haben wir Kolleginnen und Kollegen zu verdanken, die sich mehr einsetzen, als sie müssten“, sagt Matthias Landsberg.
Als wir sein Arbeitszimmer betreten, öffnet er gerade eine Mail. Wieder einmal hat das Schulamt eine neue Vertretungsstelle bewilligt. Die Behörde „bemühe sich“ und träfe keine Schuld, sagt der Schulleiter.
Matthias Landsberg: Lehrer sind schlechtgeredet worden
Ob die bewilligte Stelle kurzfristig und adäquat besetzt werden könne, da ist Landsberg skeptisch. Schlechte Aufstiegschancen und bessere Verdienstmöglichkeiten in der freien Wirtschaft als Ergebnis einer verfehlten Bildungspolitik hätten dem Berufsbild geschadet.
„Der Lehrer ist über Jahre hinweg schlechtgeredet worden. Wir haben keine Lobby“, findet Matthias Landsberg, der steigende Schülerzahlen erwartet und sagt: „Da muss Geld reingeballert werden ohne Ende.“ Dann muss Matthias Landsberg los. Der Bus zur Schwimm-AG wartet.