In einigen Städten Deutschlands gab es an Silvester Randale und Gewaltkriminalität gegen Sicherheitskräfte. Woran liegt das? Und warum waren es vor allem jugendliche Männer mit Migrationshintergrund, die daran beteiligt waren? Professor Ahmet Toprak von der Fachholschule Dortmund erklärt dies in seinem Gastbeitrag.
In unregelmäßigen Abständen beobachten wir gruppenbezogene Gewalttaten Jugendlicher, die die Öffentlichkeit aufrütteln. Härtere Strafen für die Täter ist eine Maßnahme, die von Politik und Öffentlichkeit spontan und wiederkehrend verlangt wird. Integrationsdefizite werden angezeigt, wenn es sich wie jetzt in der Silvesternacht um Jugendliche mit Migrationshintergrund handelt. Um die Täter zu bestrafen, müssen sie erst ermittelt, und ihnen eine Straftat nachgewiesen werden.
Bei einer chaotischen Gemengelage, wie wir sie in der Silvesternacht erlebt haben, ist das für die Ermittler mehr als eine ambitionierte Aufgabe. Aber unabhängig davon gibt die Forschung einige Antworten, warum gruppenbezogene Gewalttaten zustande kommen und was dagegen getan werden kann.
Warum aggressives Verhalten?
Grob betrachtetet lassen sich drei zentrale Motive für aggressives und gewalttätiges Verhalten unter Jugendlichen festhalten.
Erstens geht es um das Streben nach Macht und Kontrolle. Vor allem, wenn andere Möglichkeiten, soziale Kontrolle zu erwerben, fehlen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, aggressiv oder gewalttätig zu agieren. Um Macht und Kontrolle zu erlangen, muss bei Jugendlichen eine erhöhte Bereitschaft zum Risiko und Gewaltaffinität vorhanden sein.
Das Verlangen nach Macht und Kontrolle kann individuell, also die Kontrolle über einzelne Personen, oder aber im Kollektiv ausgeprägt sein, hier ist die Kontrolle über eine andere Gruppe oder einen Ort gemeint.
Die Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zeigen, dass Jungen gewaltaffiner sind als Mädchen. Demnach sind Jugendliche mit niedrigem Bildungsniveau risikofreudiger und sind eher bereit, Gewalt anzuwenden als Jugendliche mit hohem Bildungsniveau.
Das bedeutete im Umkehrschluss, dass in erster Linie junge Männer mit niedrigem Bildungsniveau zur Gewalt neigen, um Macht, Kontrolle und Anerkennung zu erlangen. Und der Anteil der Jungen, mit Migrationshintergrund und einem niedrigen Bildungsniveau, ist im Vergleich zu Deutschen hoch.
Professor Ahmet Toprak ist Teil des Expertenkreises der Ruhr Nachrichten. Er lehrt an der Fachhochschule Dortmund im Bereich der Erziehungswissenschaften. Als RN-Experte beurteilt und kommentiert er für uns aktuelle Entwicklungen rund um die Themen Jugendlicher und Migration. Alle RN-Experten finden Sie hier.
Gerechtigkeit als Motiv
Das Streben nach Gerechtigkeit ist ein weiteres Motiv für gewalttätiges Verhalten. Wenn die Person glaubt, schwer provoziert und ungerecht behandelt worden zu sein, so kann das in seinen Augen gewalttätiges Verhalten rechtfertigen. Das Thema Gerechtigkeit kann unterschiedliche Dimensionen einnehmen.
Die Bandbreite ist sehr groß und reicht von allgemein herrschender sozialen Ungleichheit bis zu einer einfachen Polizeikontrolle in der Bahnhofsnähe, in dem der blonde Mann durchgewunken und ein Mann mit Migrationshintergrund kontrolliert und gefilzt wird.
Auf Diskriminierungen und Ausschlussmechanismen jeglicher Form reagieren junge Menschen enorm und versuchen durch Gewaltanwendung eine gewisse Gerechtigkeit wiederherzustellen.
Das dritte Motiv beinhaltet das Streben nach positiver Identität, das insbesondere das Verhalten in Gruppen beeinflusst, in denen eine Zugehörigkeit angestrebt wird. Soziale Gruppen spielen in der Entwicklung im Jugendalter oft eine große Rolle. Das gemeinsame Erleben ist unter Jugendlichen von entscheidender Bedeutung.
Unterschiedliche Erklärungsansätze versuchen das Phänomen zu beschreiben, dass Menschen im Gruppenkontext aggressiveres Verhalten zeigen als alleine.
Vor allem Männer zeigen mehr Gewaltverhalten in einer Gruppe, wenn sie dort anonymer sind, weil sie sich nicht nur gegenseitig aufstacheln, sondern auch gemeinsam etwas erleben.
In Gruppenkonstellationen – wie wir in der Silversternacht beobachten konnten – begünstigen Langeweile und der Wunsch nach Action das Risiko, Gewalt anzuwenden, da Gruppendruck, Alkoholkonsum oder Drogen die Hemmschelle senken.
Neben diesen drei zentralen Motiven spielen bei der Anwendung von Gewalt darüber hinaus mehrere Faktoren eine wichtige Rolle. Diese können den Umständen geschuldet sein: Frustration, Stress, Langeweile oder Gewaltdarstellung in unterschiedlichen Medien. Oder persönliche Faktoren können eine Rolle spielen: Beispielsweise eine belastete Kindheit, eigene Gewalterfahrung oder eine psychische Störung.
Grundsätzlich gibt es weniger Gewaltkriminalität
Es wird hier deutlich, dass die Ursachen und Motive für Gewalt in Gruppen sehr komplex sind. Im Hinblick auf präventive Ansätze kann aus den lerntheoretischen Ausführungen abgeleitet werden: Gewalt darf sich nicht lohnen und muss entsprechend sanktioniert werden. Was dabei aber noch viel wichtiger ist: sozial erwünschtes Verhalten zu verstärken.
Dieses sollte durch positives Verhalten von relevanten Personen vorgeführt werden und entsprechende Verstärkung erhalten. Gefragt sind hier also eine gezielte Arbeit zum Beispiel mit den Eltern der Kinder und Jugendlichen mit (und ohne) Migrationshintergrund sowie Maßnahmen im sozialen und schulischen Umfeld.
Der Begriff Gewaltprävention hat sich gegenüber Restriktion, Strafen und Repression durchgesetzt. Gewaltprävention ist ein langwieriges und für die Laien auf den ersten Blick unsichtbares Handeln. Sie zielt auf Stärkung der Persönlichkeit, die Ausbildung von sozialer Wahrnehmung, kontrolliertes Handeln, die Schaffung von Konfliktfähigkeit, gewaltfreie Kommunikation und schließlich Vermeidung von Straftaten.
Da Gewaltprävention flächendeckend, unterstützt durch Landes und Bundesprogramme, gut funktioniert, ist die Gewaltkriminalität rückläufig. Die extremen Beispiele, die wir phasenweise und in extremer Form beobachten, wird es zwar immer wieder geben. Aber ohne Gewaltprävention wäre die Lage noch schwieriger.