
Wieso leben wir noch? Die Flut der Warnungen, die uns täglich erreichen, ist so groß, dass es eigentlich unmöglich ist, auch nur einen einzigen Tag heil zu überstehen. Klingt komisch, aber es besteht ernsthafter Grund, vor einem aus dem Ufer geraten Warnungs-Wahn zu warnen.
Bitte nicht missverstehen: Es geht nicht darum, auch nur eine einzige Gefahr zu bagatellisieren oder zu verdrängen. Aber: Wenn selbst vor Selbstverständlichkeiten gewarnt, Belangloses zur Riesen-Gefahr aufgepumpt wird, werden Warnungen zum ignorierten Hintergrundrauschen.
Wenn drei regenlose Wochen genügen, um unserem Land eine Zukunft als Wüste zu prophezeien. Wenn eine banale Erkältungswelle als Pandemie-Vorbote gedeutet wird, werden wir Warnungs-immun. Echte Bedrohungen nehmen wir dann nicht mehr ernst.
Es empfiehlt sich, drei Kategorien zu unterscheiden:
1. Die unnützen Warnungen. In der Stadt, in der ich lebe, schlängelt sich ein Bach durch einen Park. Am Ufer haben die Stadtoberen ein paar Stufen angelegt, auf die Spaziergänger sich setzen und das Wasser beobachten können. Ein hübscher Ort.
Was stört, ist ein Warnschild in doppelter Ausfertigung: ein rot umrandetes, auf die Spitze gestelltes Dreieck mit dickem Ausrufezeichen in der Mitte. Muss das sein? Wer am Wasser sitzt und nicht aufpasst, kann reinplumpsen. Das ist so, ja, aber: Das sollten schon kleine Kinder wissen. Und wenn sie es nicht wissen, hilft auch kein Schild.
„Beim Erreichen der Baumkrone das Klettern einstellen“
Mich erinnert das an die seit Jahrzehnten kursierenden Legenden über Dienstanweisungen der Bundeswehr. Die erste: „Ab einer Wassertiefe von 1,20 Meter hat der Soldat selbstständig Schwimmbewegungen aufzunehmen“.
Die zweite: „Beim Erreichen der Baumkrone hat der Soldat selbstständig alle Kletterbewegungen einzustellen“. Das steht angeblich in der Dienstvorschrift für das Verhalten im Gefecht. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Die Dienstanweisung unterliegt der Geheimhaltung. Aber allein die Tatsache, dass solche Anweisungen für möglich gehalten werden, sagt viel über unser Land.
„Muss es immer gleich die große Keule sein?“
Und dann die Warnungen, die uns Politiker, Firmen, Lobbyisten, Kirchen, Vereine, Influencer und wer auch immer um die Ohren hauen. Sie warnen vor zu hohen, wahlweise auch vor zu niedrigen Steuern, Sozialabgaben, Tarifabschlüssen, vor Überfremdung, vor zu wenig Zuwanderung, vor zu strengen oder zu laschen Umweltauflagen und und und.
Auf gute oder schlechte Folgen einer Entscheidung hinzuweisen, ist okay. Aber muss es immer gleich die große Keule inklusive Weltuntergangs-Szenario sein? (Ich gestehe: Auch wir Journalisten neigen dazu und sollten öfter mal einen Gang runterschalten).
Eine Explosion „verseuchter Lebensmittel“?
2. Die uns schützenden Warnungen. Dazu zählen etwa Hinweise auf gesundheitliche Gefahren. Wer möchte schon Glassplitter verschlucken, wenn er sein Müsli löffelt? Oder Marmelade aufs Brot schmieren, in der Salmonellen tanzen? Da sind Warnungen sicher sinnvoll.
Aber nachdenklich sollte uns die Explosion der Warnungen vor verunreinigten Lebensmitteln stimmen. 2011 sprach das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit 21 solcher Warnungen aus, 2023 waren es 269.
Wird bei Lebensmitteln heute so viel schlampiger gearbeitet als vor zehn Jahren? Oder wird heute schon Alarm geschlagen, obwohl sich eine Gefahr durch eine andere Maßnahme auch anders bannen ließe?
Übrigens: In den Verkehrshinweisen wurde schon vor Socken auf der Fahrbahn gewarnt. Kann es sein, dass die Warnschwelle sehr, sehr tief gesunken ist?
Was zu viel ist, ist zu viel
3. Warnungen, die zum Handeln motivieren sollen. Dazu zählen die allermeisten Warnungen aus dem Lifestyle- und Gesundheitsbereich: vor zu viel Zucker, zu viel Salz, zu viel Fett, zu wenig Bewegung, zu viel Alkohol, zu viel Sonne, zu lauter Musik, zu viel Fleisch, zu wenig Vitaminen, zu enger Kleidung, zu hohen Schuhen und vielem mehr.
Jede einzelne mag sinnvoll sein, aber: Wer sich jede Zuviel- und Zuwenig-Warnung zu Herzen nimmt, macht sich zum Sklaven dieses Zu-viel-zu-wenig-Katalogs. Gehört zum Leben nicht auch, ab und an etwas Unvernünftiges zu tun? Eine Regel zu brechen? Weil es vielleicht nicht gerade sinnvoll ist, es aber einfach schön ist oder Spaß macht?
Und dann gibt es die apokalyptischen Warnungen vor Krieg, vor dem Anstieg der Meeresspiegel, vor dem Sterben der Wälder, vor dem Aussterben von Tieren und Pflanzen, vor der Wirkungslosigkeit der Antibiotika...
Auch hier gilt: Jede Warnung ist gut gemeint: Sie soll uns antreiben, uns für Frieden, für die Umwelt, für andere, schlicht für das Gute einzusetzen. Das Problem ist das Übermaß. Irgendwann will und kann es der mit Warnungen überschüttete Mensch nicht mehr hören.
Er greift zum Selbstschutz, koppelt sich ab: „Alles zu viel, daran kann ich eh nichts ändern“ und wechselt in den Scheißegal-Modus. Es wird Zeit, die Warn-Inflation zu stoppen. Absurd, aber notwendig: die Warnung vor zu vielen Warnungen.