„Es ist eine Unverschämtheit“ Chefarzt der Kinderklinik ist gegen Strafgebühr bei Notfällen

„Wir sind keine bevölkerungspädagogische Erziehungseinrichtung“
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Der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Thomas Fischbach, forderte jüngst, eine Notaufnahmegebühr einzuführen. Eltern sollen sich also in bestimmten Fällen an den anfallenden Kosten beteiligen. „Die Notfallversorgung muss auf Notfälle konzentriert werden und nicht für die Pickel am Po der Kinder, für die die Eltern unter der Woche keine Zeit haben und mit denen man dann am Wochenende beim Notdienst aufschlägt“, erklärte Fischbach der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. „Für solche Fälle hielte ich eine Eigenbeteiligung der Versicherten für absolut sinnvoll.“

„Eine sehr problematische Aussage“, findet der Ärztliche Direktor der Vestischen Kinder- und Jugendklinik, Prof. Dr. Michael Paulussen. Ja, bestätigt der Mediziner, es gebe sicherlich Fälle, bei denen Eltern mit ihren Kindern in der Notaufnahme vorstellig werden, sich der vermeintliche Notfall sich aber nicht also solcher bestätigt. „Aber die Anzahl dieser Fälle ist weitaus geringer, als es die Aussagen von Fischbach vermuten lassen.“

Ärztlicher Direktor ist gegen eine Notaufnahmegebühr

Kinderärztepräsident Fischbach begrüßte zwar die Pläne der Regierungskommission für eine Reform der Notfallversorgung, die unter anderem Notfallzentren für Kinder vorsieht. Allerdings würden Kinder- und Jugendärzte fehlen, um solche Zentren auch flächendeckend zu besetzen. Der Kinderärztepräsident setzt also zusätzlich auf Abschreckung durch eine Notaufnahmegebühr, um die Kliniken zu entlasten. Eltern durch solch eine Gebühr abschrecken zu wollen, ist für Prof. Dr. Michael Paulussen ein Unding.

„Ich finde, es ist eine Unverschämtheit, dass von Eltern erwartet wird, beurteilen zu können, wie schlimm eine Erkrankung ist, geschweige denn, ob überhaupt eine vorliegt“, sagt Prof. Dr. Paulussen. „Die haben doch kein Medizinstudium. Wir sind keine bevölkerungspädagogische Erziehungseinrichtung, sondern Ärzte, die kranke Menschen heilen und retten sollen.“ Er untersuche lieber 100 Kinder „umsonst“, um die Eltern dann beruhigt nach Hause schicken zu können, „als dass nur ein Kind verstirbt oder hohen Schaden nimmt.“

Die Vestische Kinder- und Jugendklinik in Datteln.
Die Vestische Kinder- und Jugendklinik in Datteln ist Anlaufstelle für Familien aus dem gesamten Kreis und darüber hinaus. © Andreas Kalthoff (Archiv)

Sollte der Vorschlag des Kinderärztepräsidenten umgesetzt werden, hieße das, dass eine nicht ärztliche Fachkraft, also eine Krankenschwester, das Kind in der Notaufnahme in Augenschein nimmt. Und zwar nach einem festgelegten Einschätzungsverfahren. Diese Begutachtung soll innerhalb von zehn Minuten, nach Erscheinen in der Notaufnahme, erfolgen. Dabei werde festgelegt, wie wichtig es ist, dass sofort eine weitere Abklärung erfolgt, oder ob es reicht, dass die Abklärung auch in 24 Stunden erfolgt. „Ist das der Fall, ist es kein Notfall und die Eltern müssten mit ihrem Kind nach Hause geschickt werden“, erklärt Paulussen. Werde der kleine Patient dennoch behandelt, „bekämen wir dafür kein Geld“, erklärt Paulussen.

„Das muss dann den Eltern erst einmal jemand verständlich machen, dass diese Entscheidung nicht von einem Arzt getroffen wird. Das wird also auch Zeit kosten und nicht sparen, so wie man sich das anscheinend vorstellt. Völlig praxisfern“, macht der Mediziner seinem Ärger Luft. „Und dann fängt die Arbeit für das Personal ja erst richtig an.“ Wenn der vorliegende Fall nicht als Notfall eingestuft wird, müsse die Schwester einen Termincode für das Kind generieren, mit dem die Eltern sich dann bei ihrem Kinderarzt vorstellen. Außerdem müsse sie den Fall und die Ablehnung genauestens dokumentieren.

Und erst jetzt kommt auch ein Mediziner zum Einsatz. Der müsse nämlich die Dokumentation der Krankenschwester genau kontrollieren und bestätigen. „Das ist doch völlig skurril“, schimpft Paulussen, „denn ich habe im Grunde einen Arzt, der nur damit beschäftigt ist, solche Dokumentationen zu prüfen.“ Das bereits jetzt hohe Maß der Bürokratie im Arbeitsalltag sei einer der Gründe dafür, „dass wir keine Leute finden. Dafür hat doch keiner studiert!“ Nein, sagt Paulussen, die Beurteilung, ob ein Notfall vorliegt oder nicht, die könne nur ein Arzt vornehmen.

Eltern sollen sich nicht schämen, Hilfe in Anspruch zu nehmen

„Niemand soll sich schämen oder ein mulmiges Gefühl haben, zu uns zu kommen“ so Prof. Dr. Paulussen, „und das soll bitte auch so bleiben.“ Sollten die Pläne dennoch umgesetzt werden, sagt der Mediziner, „werde ich ganz sicher anordnen, dass wir Kinder behandeln. Auch auf die Gefahr hin, dass wir nicht bezahlt werden. Ich muss meine Mitarbeiterinnen davor schützen, solche Entscheidungen fällen zu müssen, wie mitten in der Nacht, einen Vater mit Kind nach Hause zu schicken, ohne dass ein Arzt darauf geschaut hat.“ Er finde es zynisch, die Reformpläne unter dem Deckmäntelchen zu verkaufen, „dass das die Kliniken entlasten soll. Davon ab, ich habe das Kind schneller abgehört, als den Eltern zu erklären, warum wir das nicht mehr machen.“

Er finde es ganz wichtig, dass Eltern wissen, dass es eine Anlaufstelle gibt, an die sie sich wenden können. „Und das gilt auch für den Fall, dass die Eltern nicht entscheiden können, wie schlimm die Situation ist und diese lieber vom Fachmann abklären lassen. Dafür sind wir ja auch da“, sagt der Ärztliche Direktor der Kinderklinik. „Die allermeisten Eltern kommen nicht zu uns, weil sie die Wartezeiten bei ihren Kinderärzten umgehen wollen, sondern weil sie sich Sorgen um ihre Kinder machen.“ Es gebe einfach Fälle, „da kann man die Eltern nicht alleine entscheiden lassen. Und dass dann noch zusätzlicher Druck durch den Gesetzgeber mit einer Strafgebühr aufgebaut wird“, Paulussen holt tief Luft und die Fassungslosigkeit ist ihm anzuhören. „Wenn dann etwas passiert, werden die ihres Lebens nicht mehr froh. Und ich im übrigen auch nicht.“

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