Eltern von Neugeborenen haben noch ganz gute Chancen, einen Kinderarzt zu finden. „Kinder, die gerade erst zur Welt gekommen sind, haben noch keinen. Die nehmen wir auf“, sagt der Kamener Kinderarzt Dr. Adam Dimitrios Exarchos.
„Aber Patienten, die zu uns wechseln möchten, das ist sehr schwierig. Es fehlt uns die Zeit“, sagt er. Man merkt dem Mediziner an, dass er diese Umstände belastend findet und es sich anders wünschen würde. Allerdings möchte er auch den Patienten gerecht werden, die er hat.
Eltern suchen in Nachbarstädten
Das hat zur Folge, dass Familien bei der Suche nach einem Kinderarzt auf Kamens Nachbarstädte ausweichen. „Es gibt Familien, die gehen nach Lünen oder Hamm. Wenn sie an der Grenze wohnen, gehen sie lieber in die Nachbarstadt, als nach Kamen zu kommen. Es ist ein Problem“, so Exarchos.
Eines, das nicht nur Kamen betrifft. Michael Achenbach ist Pressesprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzt*innen (BVKJ) für den Bereich Westfalen-Lippe – und selbst Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in einer mittleren kreisangehörigen Stadt. Dementsprechend kennt auch er die Problematik.

„Ich bin der einzige“
Er hat seine Praxis in Plettenberg im Märkischen Kreis. „Die Stadt hat um die 26.000 Einwohner, etwa 4.250 Kinder- und Jugendliche – und ich bin der einzige Kinderarzt“, sagt er. In Kamen sind es laut des Kommunalprofils von IT.NRW im Jahr 2022 rund 7.000 Kinder- und Jugendliche zwischen 0 und 18 Jahren gewesen. Hier gibt es zwei Kinderärzte in der Stadtmitte.
Laut Achenbach ist die Problemlage vielschichtig. „Wenn Sie die Kassenärztliche Vereinigung nach der Versorgungslage fragen, wird Ihnen gesagt, dass der Versorgungsgrad hier bei 112 Prozent liegt. Ab 100 Prozent ist die Niederlassung gesperrt und es darf keiner mehr kommen.“ Bei kreisangehörigen Städten wird die Quote dabei auch noch auf den Kreis gerechnet, nicht auf die einzelnen Städte.
Veraltete Regeln gelten bis heute
Die Gründe dafür lägen weit in der Vergangenheit. „Damals hatte die Politik Angst vor einer Überversorgung durch zu viele Ärzte“, erklärt der Mediziner. „Deshalb wurden zu strenge Regeln verhängt, die bis heute gelten.“ Es sei viel Arbeit dazugekommen und der Bedarf an Kinder- und Jugendärzten gestiegen – das werde im System aber nicht abgebildet.
„Damals gingen die Untersuchungen nur bis zur U8“, erklärt Achenbach. Über die Jahre sind die Kindervorsorgeuntersuchungen aber immer umfangreicher geworden. „Anfang der 90er ist die U9 eingeführt worden. Dann kam die J1 von 12 bis 14 Jahren. Dann kamen U7a, U10, U11 und J2“, listet Achenbach auf.
Gesunde Kinder werden gesunde Erwachsene
Dazu kommen weitere Gründe, die die Situation erschweren. „Wir haben mehr Arbeit pro Patient, einen zunehmenden Flaschenhals bei der Nachwuchsgenerierung und unsichere Eltern, die mehr Beratung einfordern.“ Und: Eine nicht angemessene Vergütung im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin. „Die Problematik ist multifaktoriell.“
Wichtig sei zu betonen, dass gesunde Kinder eher zu gesunden Erwachsenen heranwachsen. „Pädiatrie zahlt sich aus, aber erst viele Jahre später“, so Achenbach. „Die Pädiatrie ist eine Investition in die Zukunft.“ Dass die Kindergesundheit im gesellschaftlichen Kontext eine wichtige Rolle hat, sei jedoch noch nicht verstanden worden.

Großstädte als „Inseln des Glücks“
In vielen Großstädten ist die Lage vergleichsweise harmlos – noch, wie Dr. Axel Gerschlauer betont. Er ist Sprecher des BVKJ für den Bereich Nordrhein und hat seine Praxis in Bonn. „Durch eine attraktive Infrastruktur, Lebensbedingungen und drei Kinderkliniken in der Nähe haben wir es noch relativ leicht, Nachfolger*innen für unsere Praxissitze zu finden“, so Gerschlauer.
„Aber auch bei uns versorgen viele Kolleg*innen nur noch Neugeborene aus der direkten Umgebung. Wechsler werden sehr häufig nicht angenommen, Zugezogene haben es mitunter schwer, unterzukommen.“ Im Vergleich zu den Verhältnissen in kleineren Städten, lebe man dort derzeit aber „noch (!) auf einer Insel des Glücks“, wie er sagt.
Ärzte sehen Politik in der Pflicht
Eine kontinuierliche Verschlechterung der Verhältnisse sei aber auch in den Großstädten zu erwarten. Laut seiner Prognose in den nächsten fünf bis spätestens zehn Jahren. „Zumindest, wenn von Seite der Gesundheitspolitik nicht schleunigst, massiv und deutlich gegengesteuert wird.“
Eine Einschätzung, die auch seine Kollegen teilen. Bis dahin sei damit zu rechnen, dass es immer weniger Kinderärzte geben wird und kleine Neupatienten immer größere Probleme haben, in einer Praxis unterzukommen. „Es knirscht im Gebälk, aber das gibt keiner öffentlich zu.“
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 23. Februar 2024.