
Sind wir auf dem Weg zurück in eine archaische Vorzeit? Kommen uns Werte und Normen abhanden, die wir uns in Jahrzehnten für einen zivilisierten Umgang miteinander erkämpft haben? Ich habe das Gefühl, dass sich unsere Gesellschaft – zumindest in Teilen – gerade in eine bedenkliche Richtung entwickelt.
Ein alarmierendes Signal sendet die neue Umfrage zum „Spannungsfeld Männlichkeit“. Demnach sind 34 Prozent der Männer zwischen 18 und 35 Jahren gegenüber der Partnerin schon handgreiflich geworden, um einer Frau „Respekt einzuflößen“. Sie finden das völlig in Ordnung. 52 Prozent der Befragten plädieren zudem für eine traditionelle Rollenaufteilung: Der Mann soll Geld verdienen, die Frau den Haushalt führen. Willkommen im Deutschland der 1950er-Jahre.
Mag sein, dass Kritiker recht haben und die Umfrage der Organisation „Plan International“ Fehler aufweist, ein falsches Bild zeichnet sie wohl nicht. So sagte die Bochumer Soziologin Prof. Dr. Katja Sabisch dem Spiegel: Das Ergebnis der Umfrage habe sie nicht überrascht. Die Tendenz scheint also zu stimmen, und das ist schockierend.
Zahlen belegen einen Anstieg der häuslichen Gewalt
Untermauert wird die Umfrage durch Fakten. Laut der im November 2022 veröffentlichen Studie zur „Partnerschaftsgewalt“ des Bundeskriminalamtes hat „die Gewalt in bestehenden und ehemaligen Partnerschaften in Deutschland in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen“. 2021 wurden allein in NRW 30.759 Fälle häuslicher Gewalt erfasst. Ein Anstieg gegenüber 2020 um 5,5 Prozent.
Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Sie einzig darauf zurückzuführen, dass die Zahl der Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen mit anderen gesellschaftlichen Normen, Familienbildern und Moralvorstellungen gestiegen ist, wäre dumm. Schließlich sind bei häuslicher Gewalt 65,6 Prozent aller Tatverdächtigen deutsche Staatsangehörige.
Einen solchen Zusammenhang gänzlich zu bestreiten, wäre allerdings ebenso dumm, weil sich Unterschiede im Wertekanon völlig verschiedener Kulturkreise schlicht nicht leugnen lassen. Um hier die richtigen Schlüsse zu ziehen, bräuchte es viel gründlichere Untersuchungen als die jetzt so plakativ verbreitete Umfrage. Sie müssten etwa der Frage nachgehen: Was ist entscheidender für eine höhere Gewaltbereitschaft – kulturelle Herkunft oder soziale Schicht?
Macho-Männer und die Massen, die ihnen zujubeln
Fatalerweise fügt sich die Zunahme häuslicher Gewalt ein in eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Es hat sich ein Klima aufgebaut, in dem Gewalt nicht mehr generell ein Tabu ist. Dafür gibt es Symptome. Einige Beispiele:
Der Ton, in dem gestritten wird, wird rauer, aggressiver, unverschämter. Wer da Zweifel hat, werfe einen Blick auf Kommentare in diversen Social-Media-Kanälen. Oder höre hin, in welch Gewalt verherrlichender Sprache Ex-US-Präsident Donald Trump Wahlkampflügen verbreitet. Unfassbar: Die Massen feiern ihn selbst dann noch, wenn er vor Gericht steht.
Erdogan in der Türkei, Putin in Russland, Kim Jong-un in Nordkorea, Baschar al-Assad in Syrien, Alexander Lukaschenko in Belarus und andere Autokraten irgendwo auf der Welt: Macho-Männer, für die Gewalt, Verfolgung Andersdenkender und Unterdrückung der Meinungsfreiheit legitime Mittel zur Festigung der eigenen Macht sind. Die Menschen jubeln ihnen zu. Und die, die das nicht tun, laufen Gefahr, wie im Mittelalter in dunklen Kerkern zu verschwinden.
Was gewaltbereite Autokraten anrichten, erleben wir gerade in der Ukraine.
Die allgemeine Ächtung des Krieges hat sich erledigt
Krieg, dessen Ächtung jahrzehntelang auch über Systemgrenzen hinweg unstrittig war, ist mitten in Europa wieder zum Mittel der Durchsetzung politischer Ziele geworden. Erst in dieser Woche warnte das Stockholmer Friedensforschungs-Institut Sipri, dass die Zahl einsatzfähiger Atomwaffen nach jahrzehntelanger Phase der Abrüstung wieder steigt. Viele Nationen modernisieren ihre Atomwaffen, China stockt sein Arsenal massiv auf. Welch fürchterliche, beängstigende Entwicklung.
Wo sind wir da nur reingeraten und wie kommen wir da wieder raus? Kann es sei, dass uns der Frieden zu langweilig geworden ist? Kann es sein, dass in einer Welt, die in Unordnung geraten ist, Menschen wieder Halt suchen in extrem einfachen, längst überholten Verhaltensmustern? Klare Hierarchie, klare Ordnung und wer aufmuckt, wird gezüchtigt? Und das nicht nur im politischen Leben, sondern eben auch zu Hause?
Ich bin sicher, dass wir mit einem solchen Rollenbild unsere Zukunft zerstören. In der Partnerschaft ebenso wie im Zusammenleben der Nationen. Gewalt erzeugt Hass, Hass erzeugt Gewalt. Ein Kreislauf, bei dem es am Ende nur Verlierer gibt. Deshalb muss dieser Kreislauf durchbrochen werden. Im Zusammenleben der Nationen ebenso wie in jeder Familie.
Häusliche Gewalt ist keine Privatsache
Häusliche Gewalt ist daher nie eine reine Privatsache. Jeder und jede einzelne ist aufgefordert, die lautlosen Schreie der Opfer zu hören und im Falle eines Falles einzuschreiten. Der Staat seinerseits muss eine Erziehung zur Gewaltlosigkeit fördern, Opfer schützen und Täter bestrafen. Und zwar konsequent. Und dann gäbe es noch viele kleine Dinge, die ein Staat tun könnte, um in Sachen Gewalt zu deeskalieren.
Um nur ein winziges Beispiel zu nennen: Ich verstehe nicht, warum immer wieder etwa an Bahnhöfen „Waffenverbots-Zonen“ ausgerufen werden. Was soll das? Wieso darf jemand überhaupt bewaffnet umherlaufen, ob am Bahnhof oder andernorts? Ich bin grundsätzlich für ein Waffenverbot im öffentlichen Raum. Punkt. Extra Verbotszonen signalisieren nur: Außerhalb der Zone ist es okay. Nein, ist es nicht. Und häusliche Gewalt ist es auch nicht. Niemals.
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