Die weiterführenden Schulen in Kamen bauen den Einsatz von Tabletcomputern im Unterricht trotz anfänglicher Umsetzungsprobleme weiter aus. Statt mit Heften und Schulbüchern arbeiten viele Schülerinnen und Schüler nun mit iPads der Marke Apple. Eine groß angelegte Digitalisierungsoffensive mit privat angeschafften und elternfinanzierten iPads geht damit am Gymnasium, an der Gesamtschule, an der Realschule und an der Hauptschule in das zweite Schuljahr.
Die Schulen setzen das – auf dem umstrittenen Prinzip „Bring your own device“ basierende – Konzept trotz einer anders lautenden Empfehlung der obersten Datenschützerin in NRW um. Diese hatte das Kamener Modell im vorigen Schuljahr im Rahmen einer Beschwerde geprüft, nachdem ein IT-Experte in einer Risikoanalyse Sicherheits- und Datenschutzbedenken gegen die Einführung am Gymnasium angemeldet hatte.
Das Ergebnis der Prüfung: Die Schule darf die privaten Geräte zur Klassenraumsteuerung, die kooperatives und interaktives Arbeiten ermöglicht, in eine Verwaltungssoftware („Mobile Device Management“) einbinden und damit unter schulische Kontrolle stellen, sofern eine datenschutzrechtliche Einwilligung vorliegt. Weil diese Einwilligung aber jederzeit widerrufbar ist, empfahl die oberste Datenschützerin den Einsatz privater Endgeräte nur als Übergangslösung bis zur Anschaffung schuleigener Geräte.
Volle Funktionen noch nicht nutzbar
Erst wenn die iPads in das MDM eingebunden sind, können Lehrerinnen und Lehrer die vollen Funktionen des kooperativen und interaktiven Arbeiten für ihre Klassen freischalten. Allerdings zeigt sich am Beispiel des Gymnasiums: Auch zu Beginn des zweiten Schuljahrs ist es offenbar noch nicht gelungen, alle iPads in das MDM einzubinden. Damit bleibt der Einsatz der mehrere Hundert Euro teuren Tabletcomputer oft noch auf ein digitales Schreibheft reduziert.
Eigentlich soll der Einsatz so laufen: Bei Stundenbeginn drückt der Lehrer auf seinem iPad eine Schaltfläche. Dann werden alle Geräte, die in seiner Lerngruppe sein sollen, für die Dauer des Unterrichts vom Privat- auf den Schulmodus umgestellt. In dieser Zeit sind dann nur die Apps freigegeben, die für den Unterricht erforderlich sind.
Schulleiter Lars Wollny beantwortet die Frage nach einer vorläufigen Bilanz der iPad-Einführung und der MDM-Einbindung nach dem ersten vollen Schuljahr so: „Aufgrund einer erneuten Beschwerde des Beschwerdeführers bei der LDI wurde mit der Einbindung von Privatgeräten in unser MDM erst im Frühjahr begonnen. Daher gibt es noch keine Erfahrungen über ein ganzes Schuljahr, auch, da sich die Einbindung der Geräte ins MDM als zeitaufwändig darstellt und gerade zum Ende des Schuljahres unsere personellen Ressourcen anderweitig gebunden waren.“

Gehemmt wird das Digitalisierungsprojekt auch dadurch, dass offenbar nicht alle Schülerinnen und Schüler ein iPad haben oder haben wollen. „Die Bedarfsabfrage hat ergeben, dass ca. 90 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler ein iPad besitzen und dies in unser MDM integriert bekommen wollen bzw. bereits integriert bekommen haben“, erklärt Schulleiter Lars Wollny auf Anfrage. Genaue absolute Zahlen nennt er nicht, erklärt aber: „Es gibt kaum Schülerinnen und Schüler, die kein iPad benutzen wollen. In diesen wenigen Fällen wird alternatives Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt. Aber auch diesen Schülerinnen und Schülern werden die vom Medienkompetenzrahmen vorgesehenen digitalen Kompetenzen vermittelt.“ Die Bestellquote und die Quote privater Geräte, die ins MDM integriert werden sollen, ließen auf eine hohe Akzeptanz schließen. „Dies schließt natürlich negative Sichtweisen nicht aus“, so Wollny.
Viktor Bock (15) besucht eine neunte Klasse, in der iPads bereits in das MDM eingebunden werden. Der Schüler, Lieblingsfach Physik, Typ Computer-Nerd, spricht und schreibt schon so wie ein viel älterer Student. Viktor erzählt, dass er aus Überzeugung kein iPad benutzen möchte, obwohl seine Eltern ihm eines anschaffen würden.
„Die Schule zwingt indirekt die Schüler und Eltern zum Kauf eines iPads“, meint er. Das sogenannte Kamener Modell sehe die verbindliche Einführung von iPads ab Klasse 8 vor. „Ich bin mit dieser Meinung nicht einverstanden. Deshalb habe ich eine Präsentation erstellt, in der ich aufgearbeitet habe, ob ein iPad eine gute Möglichkeit zur Bildung und zur Digitalisierung an Schulen ist, und Alternativen vorgestellt. Diese Präsentation möchte ich gern auf der Homepage der Schule veröffentlichen.“

Schüler schlägt „Thin Computer“ als Alternative vor
Weil ihm bislang keine Veröffentlichung zugesagt wurde, hat der Schüler seine Präsentation an die Redaktion geschickt. Es kommt zu einem Treffen. Im Beisein seines Vaters erklärt Viktor seine Kritikpunkte an der Beschränkung auf iPads. Sven Bock (45) betont, dass sein Sohn die Ideen selbstständig entwickelt hat.
Der 15-Jährige zeigt in seiner Präsentation auf, dass im Berufsleben Computer verbreitet sind. „Computer sind komplizierter zu bedienen als iPads, jedoch im Berufsleben weitaus mehr vertreten und, je nach Umsetzung, auch kostengünstiger als iPads.“ iPads seien auch schon nach etwa fünf Jahren veraltet.
Der Schüler kritisiert die Festlegung auf Apple-Geräte, obwohl das ausgewählte MDM der Marke „Relution“ auch für die Betriebssysteme Windows und Android erhältlich ist. Das heißt, die Schule könnte windowsbasierte Laptops von Schülern ebenfalls in die Klassenraumsteuerung einbinden, lässt dieses aber nicht zu.
Ein weiteres Problem aus Sicht des 15-Jährigen sind Kompatibilitätsprobleme zwischen der Apple- und der Microsoft-Welt. „Das Anfügen und Hochladen von Dateien zwischen zwei iPads ist nicht direkt möglich, weil es noch über Microsoft-Software durchgeführt werden muss.“
Wenn das Gymnasium nicht auf iPads setzen würde, gäbe es aus Viktors Sicht eine andere Möglichkeit: Schüler und Lehrer setzen sogenannte „Thin Computer“ ein, die als lokale Terminals funktionieren und mit einem „Super Computer“ als zentralem Server kommunizieren. Als „Thin Computer“ eigne sich schon ein Minicomputer wie ein Rasperry Pi. Das Betriebssystem könne auf Linux-Basis aufgesetzt werden, eine Kompatibilität mit Microsoft bleibe möglich.
Unterrichtszeit vergeudet durch Technikprobleme
Viktor kann anschaulich schildern, wo es beim iPad-Einsatz hakt. Zum Beispiel: „Bei einer Mappenabgabe sollten die Schüler über den Chat dem Lehrer eine PDF der Mappe schicken. Zunächst war der Internetzugriff im Klassenraum nicht ausreichend, sodass der Klassenraum gewechselt werden musste. Danach konnten die Schüler erst über Umwege (Hochladen der Datei zunächst über Sharepoint), dem Lehrer die Datei schicken. Dafür wurden insgesamt etwa 60 der 90 Minuten Unterrichtszeit gebraucht.“
Unter einer Außenseiter-Rolle leidet Viktor ohne iPad nicht. Manchmal allerdings spürt er die Nachteile, kein iPad zu haben. Eine Lehrerin habe seine Meldung einmal nicht angenommen. Der vermutete Grund: Seine analog auf Papier geschriebenen Arbeitsergebnisse lassen sich nicht digital auf der Tafel teilen.
Diskriminierung von Schülern ohne iPad?
Die Frage, ob die diskriminierungsfreie Teilnahme von Schülern ohne iPad am Unterricht gewährleistet ist, beantwortet Schulleiter Lars Wollny weder mit Ja noch Nein. In der Praxis scheinen Lehrer nicht so recht zu wissen, wie sie mit Schülern umgehen sollen, die auch kein kostenloses Leihgerät der Schule haben wollen. Auf die Leihmöglichkeit hatte die Schule im vorigen Schuljahr in einem Elternbrief hingewiesen. „Auch wenn ein Recht auf analoge Beschulung besteht und Eltern nicht verpflichtet werden können, ein Gerät für ihr Kind anzuschaffen, halten wir es für absolut sinnvoll, dass alle Schüler:innen ab Klasse 8 ein digitales Gerät für schulische Bildung besitzen. Auch die Schulkonferenz hat sich für diesen digitalen Weg ausgesprochen. Sollten Eltern einem Kauf trotzdem nicht zustimmen, hält die Schule im Unterricht Alternativen bereit.“