Wer Michael Vassiliadis nach Deindustrialisierung fragt, bekommt erst mal ein viertelstündiges Kurzreferat, beginnend in der Nachkriegszeit. Grundtenor: Die deutsche Industrielandschaft ist anders als andere, kleinteiliger, enger vernetzt. Deshalb denkt der Vorsitzende der Chemiegewerkschaft IGBCE immer in Zusammenhängen, Prozessketten, Clustern.
Der Gewerkschafter hadert mit ökonomischer Naivität und fürchtet, dass klimapolitisches Wunschdenken die Transformation behindert. Mit dieser Botschaft ist er unterwegs, der Kalender ist gestopft voll. Für das RND-Gespräch in der hannoverschen IGBCE-Zentrale opfert der 59-Jährige die letzte Lücke vor einem ganz besonderen Termin: der Hochzeit mit Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB).
Seit Wochen ist von Wirtschaftskrise und Deindustrialisierung die Rede. Ist die Gefahr real oder erleben wir mal wieder „German Angst“, Herr Vassiliadis?
Jedenfalls sind Teile bedroht. Verzögerte Energiewende, überhöhte Energiepreise, überbordende Regulierung, marode Infrastruktur – und gleichzeitig die Notwendigkeit, die Produktion mit hohen Investitionen in Richtung Klimaneutralität umzubauen: Da brennt es lichterloh. Ich sehe nicht die Industrie als solche in Gefahr, dem Maschinenbau geht es zum Beispiel gut. Aber die energieintensive Produktion vieler Vorprodukte ist gefährdet, Chemie, Metalle, Kautschuk, Papier, Glas. Wenn sich das durch die Wertschöpfungskette frisst, reden wir wirklich von Deindustrialisierung.
Manche beschreiben das eher als überfällige Modernisierung: Weg von energieintensiver Industrie, hin zu Dienstleistungen.
Es gibt Ideen, völlig anders zu wirtschaften, ohne Auswirkung auf Klima und Umwelt – also am liebsten ohne Industrie und Wachstum. Und das soll auch noch rasant schnell erfolgen. Die IGBCE lehnt einen solchen Weg ab, weil es ökonomisch bestürzend schlicht und im Ergebnis verantwortungslos ist. Das bleibt im Übrigen mein Vorwurf an manche Umweltgruppen und andere NGOs: Die radikalen Ansprüche haben die Transformation in der Realität verzögert.
Wie das?
Transformation muss auch darstellbar sein. Wir werden nicht jeden einzelnen Betrieb retten können, es gibt einen Umbruch. Aber wir müssen das Gesamtsystem erhalten. Man darf nicht vergessen, dass Deutschland ein sehr spezielles Wirtschaftsmodell hat. Die Industrie ist hier sehr eng vernetzt, das hat in dieser Form sonst keiner. Da legen Sie nicht einfach einen Schalter um. Laut einer Studie des IW Köln hängen übrigens 2,4 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland direkt und indirekt an energieintensiven Branchen. Und wenn energieintensive Vorprodukte woanders hergestellt werden, hilft das vielleicht unserer Statistik, aber nicht dem Klima.
Die IG BCE fordert zusammen mit der IG Metall und Industrieverbänden einen Industriestrompreis. Ist das die Lösung?
Der Brückenstrompreis wäre ein wichtiger und vor allem schneller Beitrag. Und er würde zusammen mit anderen Maßnahmen den Unternehmen eine Perspektive geben. Jetzt fallen die Entscheidungen, ob hier in moderne Anlagen investiert wird oder neue anderswo gebaut werden. Wir sehen das aktuell in zig Betrieben. Geschwindigkeit ist deshalb entscheidend.
Die Subvention wäre aber befristet. Und wurde Energie nicht ohnehin teurer gemacht, um den Verbrauch zu senken?
Wir müssen uns von der „grünen“ Idee verabschieden, dass ein hoher Strompreis gut ist. Diese Spareffekte sind schon abgearbeitet, und wenn Sie Anlagen klimaneutral betreiben wollen, steigt der Strombedarf noch mal gewaltig. Strom muss so billig wie möglich, aber klimaneutral sein. Dazu kann der Staat seinen Teil beitragen, indem er Zusatzkosten herausnimmt und Stromproduktion für den Eigenbedarf besserstellt. Außerdem brauchen wir ein Knappheitsszenario: Wer wird bedient, wenn es an Ökostrom fehlt? Ich wäre dafür, Kontingente für Industriecluster zu reservieren.
Es gäbe ein paar Probleme weniger, wenn die Energiewende schon weiter wäre.
Sicher, wenn in den vergangenen Jahren die Energiewende nicht nur aus termingerechten Abschalt-, sondern auch Ausbauplänen bestanden hätte, stünden wir heute besser da. Das finde ich an der Ampelkoalition übrigens weiter beeindruckend: Sie hat dieses Problem klar benannt. Das ist ein großer Schritt gegenüber der Vorgängerregierung. Aber an ihren Ansprüchen ist die Ampel nun auch zu messen.
Was muss jetzt passieren? Ein Industriestrompreis ist nur eine befristete Subvention und reicht nicht weit.
Es braucht ein standortpolitisches Anreizpaket, dann wird die Transformation zur Chance. Dazu gehören Investitionsförderung und bessere Abschreibungsbedingungen und Garantien für eine bezahlbare und funktionierende Energieversorgung. Und kurzfristig brauchen wir Signale, dass die Industrie hier gewünscht ist und eine Basis hat. Zum Beispiel durch einen kurzen – wohlgemerkt: kurzen – Stopp bei der Regulierung.
Unterm Strich reden wir aber mal wieder von üppigen Subventionen.
Ich fordere nicht, dass wir mit der Gießkanne die Sahara gießen, das wäre Unsinn. Die Subventionen müssen viel zielgenauer werden. Wo wird welche Pipeline für welchen Zweck gebraucht? Welche Anlage muss erhalten werden, damit die Wertschöpfungskette weiter funktioniert? Wollen wir Batteriechemikalien haben – ja oder nein? Dafür brauchen wir industrielle Infrastrukturgipfel auf Bundes- oder Landesebene, die klären, wo Investitionen nötig sind, um Technologiecluster fit für die Zukunft zu machen. Zur Infrastruktur haben wir echten Debattenbedarf, aber das passiert nicht.
Sie haben einen Transformationsfonds gefordert. Soll das die Finanzierung sein?
Einen solchen Fonds gibt es ja schon in Ansätzen, aber mir geht es eigentlich um etwas anderes, und dafür haben wir noch kein Vorbild: Wir sollten öffentliches Geld mit privatem zusammenbringen. Investitionen in die Transformation sind oft gerade am Anfang gewaltig, die Erfolgsaussichten aber nicht garantiert. Da braucht es den Staat als Pacemaker und Sicherheitsanker zugleich. Er beteiligt sich bei einem Projekt als Investor und macht es damit auch für andere attraktiv. Denn Geld gibt es genug da draußen. Banken und Fonds sammeln bei ihren Kunden Milliarden für nachhaltige Kapitalanlagen ein. Die suchen Investitionsmöglichkeiten für dieses Geld. Wie wäre es also mit einer öffentlich-privaten Partnerschaft? Das wäre auch mit Blick auf den Haushalt nicht ohne Reiz. Als Investor bekommt der Staat schließlich seine Rendite und verkauft später womöglich mit Gewinn die Anteile.
Dann verstaatlichen wir das Ganze also?
Nein, es geht nicht um Staatsunternehmen. Es geht um Hubs, die nur den Auftrag haben, das Projekt umzusetzen. Es muss am Markt funktionieren, damit die Leute investieren, aber Grundrisiken kann man ausschalten. Ja, das ist dann Subvention, und man muss es mit der EU abstimmen, aber mal ehrlich: Ich kann nicht große Ideen der Weltrettung mit der heutigen Bürokratie von Brüssel verbinden.
Auf EU-Ebene gibt es große Programme für die Transformation. Warum schwärmt die Industrie jetzt trotzdem von den USA und ihrem Inflation Reduction Act?
In der EU steht viel Geld zur Verfügung, aber unter der Überschrift Green Deal wurde alles reingepackt, was geht. Es gibt kaum Prioritäten. Die USA haben mit den Steuergutschriften ein relativ einfaches System, das den Unternehmen früh Planungssicherheit gibt. Und sie bieten das komplette Paket – von der Bereitstellung der Flächen bis zur Greencard für die Beschäftigten.
Das ist in der EU mit 27 Staaten nicht so leicht umzusetzen.
Die Transformation wäre ein Anlass, einige EU-Regeln vor allem im Wettbewerbsrecht zu reformieren. Wenn man große Ziele hat, sollte man große Politik machen. Wie wäre es mit einer Investitionsstrategie für Europas Süden, wo ein Teil des Ökostroms entstehen könnte, den wir alle brauchen? Die deutschen Vorgärten werden dafür ohnehin nicht ausreichen.
Im Moment treffen sich akute Krise und grundsätzlicher Umbaubedarf. Ist das überhaupt zu bewältigen?
Vieles davon können wir gerade in Deutschland eigentlich sehr gut – zum Beispiel technische Infrastruktur. Wir haben eine Mentalität von Engineering und Fertigwerden. Die Frage ist: Wollen wir Innovation und Wachstum? Räumen wir Probleme aus dem Weg oder schaffen wir welche? Den Exodus der energieintensiven Betriebe können wir uns jedenfalls weder gesellschaftlich, noch volkswirtschaftlich oder klimapolitisch leisten. Wenn wir den Wandel intelligent befördern, ist er eine Chance.
RND
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