2,2 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland auf eigene Rechnung, als Soloselbstständige. Corona hat vielen den Job geraubt. Hunderttausende stehen vor dem Ruin und fühlen sich vom Staat im Stich gelassen.
Noam Zur ist 38 und ein gern gesehener Gast in den Konzerthäusern und Theatern dieser Welt. Der Mann, der aus Israel stammt und in Mülheim an der Ruhr lebt, dirigiert in den USA ebenso wie in Argentinien, Südafrika und Kroatien große und berühmte Orchester. Doch das war gestern. Dann kam Corona und raubte ihm von einem auf den anderen Moment die Lebensgrundlage.
Damit ergeht es Noam Zur wie ganz vielen Soloselbstständigen in Deutschland. Der Bund sagte zwar großzügige Hilfen zu, doch daran sind Bedingungen geknüpft, die einen großen Teil der Betroffenen leer ausgehen lassen. Bei vielen von ihnen herrscht nackte Existenzangst.
Mitten in einer Probe geriet die Welt aus den Fugen
Bei Noam Zur war es Freitag, der 13. März, als sein Leben unverschuldet aus dem Takt geriet. Noam Zur, der in Tel Aviv studiert hatte – „Ich bin ausgebildeter Komponist, Philosoph und Dirigent, in dieser Reihenfolge“, wie er sagt – war nach einigen festen Engagements 2010 in die reine Freiberuflichkeit gewechselt.
Weil das in vielen Fällen künstlerisch anspruchsvoller und auch wirtschaftlich lukrativer als eine Festanstellung sei, sagt er. Er habe von seinen Verträgen auf der ganzen Welt zwar keine Reichtümer anhäufen, aber doch gut leben können. Bis zu jenem 13. März 2020.
An diesem Tag steckte Zur im nordargentinischen Salta in der Generalprobe für ein Konzert. In Salta ist er seit 2017 Chefdirigent des dortigen Staatsorchesters. „Mitten in der Probe wurde bekannt, dass das Konzert wegen Corona abgesagt wird. Seit diesem Moment habe ich kein Einkommen mehr“, sagt Noam Zur im Gespräch mit unserer Redaktion. Mit einem Paukenschlag seien alle Aufträge für ihn weggebrochen, mit verheerenden wirtschaftlichen Folgen für ihn.
Bis jetzt schon Einnahmen von 20.000 Euro weggebrochen
Mitte Juni hat er nachgerechnet: „Von Sachen, die bisher schon abgesagt wurden, habe ich von März bis Juni fehlende Honorare und Einnahmeausfälle von 20.000 Euro.“ Die Einnahmeausfälle würden sich bis weit ins Jahr 2021 hineinziehen.
Normalerweise, so erzählt der Dirigent, plane er 18 Monate im Voraus und wisse genau, an welchem Tag er zu welcher Probe oder welchem Auftritt wo sein müsse. „Im Moment, also Mitte 2020, habe ich für 2021 genau zwei Projekte bestätigt. Die ganze Branche liegt am Boden“, sagt er.
Vom Musiker und Journalisten bis zum Taxifahrer gibt es Betroffene
Es gibt etwa 2,2 Millionen Soloselbstständige in Deutschland. Das reicht vom Fensterputzer über den Sporttrainer, freiberuflichen Journalisten, Taxifahrer, Grafiker, Hausmeister, Caterer und Hausmeister-Service bis hin zum Musiker ohne feste Anstellung, wie Noam Zur einer ist.
Hinzu kommen rund 750.000 Kleinunternehmen mit bis zu zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Zusammen gibt es also rund 3,1 Millionen Unternehmen in Deutschland mit weniger als 10 Mitarbeitern – von knapp 3,5 Millionen Unternehmen insgesamt.

Mit einem solchen Antrag konnte man die Corona-Soforthilfe beantragen. © picture alliance/dpa
Viele dieser Soloselbstständigen und Kleinunternehmer verloren mit dem Beginn der Coronakrise ihre Aufträge und damit ihren Lebensunterhalt. Das sah auch der Bund so und legte daher bereits im März für diese Gruppe ein Soforthilfeprogramm von 50 Milliarden Euro auf – genug, um allen betroffenen Unternehmen drei Monate lang die wirtschaftliche Existenz zu sichern. Jeder Soloselbstständige sollte demnach bis zu 9.000 Euro als Zuschuss erhalten – drei Monate je 3.000 Euro.
Ein Hilfsplan, der an der Lebenswirklichkeit vorbeigeht
Das klang gut, doch der Plan hatte einen Haken: Der Zuschuss sollte laut Bundeswirtschaftsministerium ausschließlich zur Deckung der betrieblichen Sachkosten – also Miete, Strom, Telefon etc. dienen. Für die Sicherung des Lebensunterhalts durfte er nicht verwendet werden.
Doch bei vielen Soloselbstständigen ist der Anteil der betrieblichen Sachkosten extrem gering. Wer aus dieser Gruppe hat schon ein eigenes Büro, eine eigene Werkstatt? Die meisten arbeiten vom Wohnzimmer aus, haben oft nicht einmal ein eigenes Arbeitszimmer und können daher nur wenig Geld von der Soforthilfe erhalten. Ihren Lebensunterhalt sollten sie dann notfalls eben über Hartz IV bestreiten, so die Argumentation des Bundeswirtschaftsministeriums.
Erst die Freude und dann die Einsicht
Einige Länder – etwa Nordrhein-Westfalen - hatten den Passus, dass die Soforthilfe des Bundes nur für betriebliche Sachkosten verwendet werden durfte, im Kleingedruckten des Bundeswirtschaftsministeriums zunächst gar nicht gesehen und das Geld schon ausgezahlt.
So war das auch bei Noam Zur. „Ich habe die Soforthilfe, die 9000 Euro, relativ schnell bewilligt und ausgezahlt bekommen. Das lief sehr gut, das muss man fairerweise sagen.“ Doch dann reifte langsam die Einsicht, dass man die Soforthilfe eben nur für betriebliche Sachausgaben nutzen darf.
Appelle an Peter Altmaier verhallen wirkungslos
Das führte zu zahlreichen Rückforderungen an die betroffenen Selbstständigen und zu einem Streit zwischen Bund und Ländern. Am 6. April richtete Noam Zur in einem Offenen Brief an die zuständigen Minister der Bundesregierung, der unserer Redaktion vorliegt, einen energischen Appell, die Förderbedingungen für die Soforthilfe unverzüglich zu ändern.
Zwei Tage später, am 8. April, machten die Wirtschaftsminister aller Bundesländer ihrerseits den Bundeswirtschaftsminister auf die fatale Situation aufmerksam. In einem Brief, den sie ans Wirtschaftsministerium schickten, heißt es: „Damit die Corona-Soforthilfe auch für diese, sicherlich mehrere hunderttausend Fälle in ganz Deutschland umfassende Gruppe der Solo-Selbstständigen greifen kann, ist es wichtig, die Hilfe nicht ausschließlich an liquiditätsmäßigen Belastungen wie Mieten, Pachten, Leasingraten oder anderen Sachkosten auszurichten, sondern vielmehr auch an den Corona-bedingten substantiellen Umsatzeinbrüchen der Betroffenen.“
Geändert hat das ebensowenig wie eine an Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier gerichtete Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats seines eigenen Ministeriums vom 24. April, in dem gleich an erster Stelle der vorgeschlagenen Unterstützungsmaßnahmen zu lesen ist: „Solo-Selbstständigen und Kleinunternehmen wird durch nichtrückzahlbare Zuschüsse zu den betrieblichen Kosten geholfen. Solche Zuschüsse sind für diese heterogene, für den Erhalt der sozialen Marktwirtschaft bedeutsamen Gruppe ein geeignetes Instrument. Allerdings sollte zudem für einen gewissen Einkommensersatz gesorgt werden, und dies unabhängig von der Grundsicherung.“
Ein Kompromiss für Nordrhein-Westfalen
Doch auch dieser Experten-Rat stieß auf taube Ohren. Die Soforthilfe lief in unveränderter Form bis 31. Mai und wurde dann von der sogenannten Überbrückungshilfe abgelöst.
In NRW einigte man sich im Mai auf einen Kompromiss. Für die Monate März und April konnten Soloselbstständige und Kleinunternehmer jeweils 1.000 Euro als „Unternehmerlohn“ zu den Betriebskosten zählen. Ähnliche Regelungen gab es auch in Hamburg und Baden-Württemberg.

Noam Zur. © Zur/ ArtPro
Gleichwohl werden viele Soloselbständige auch in NRW noch Rückzahlungsbescheide erhalten. Auch Noam Zur rechnet damit: „Ich gehe davon aus, dass ich irgendwann aufgefordert werde, meine betrieblichen Sachausgaben nachzuweisen und dass ich dann anfange, mich mit meinem Amt zu streiten, zusammen mit meinem Steuerberater, den ich dann auch noch bezahlen muss“, sagt Zur und flüchtet sich in Galgenhumor: „Mit dem Steuerberater habe ich dann wenigstens Betriebskosten generiert, die ich angeben kann.“
Verband der Selbstständigen übt massive Kritik
Unterm Strich, so berichtet Dr. Andreas Lutz, Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD) e.V. mit Sitz in München, im Gespräch mit unserer Redaktion, seien von den bereitgestellten 50 Milliarden Euro für die Soforthilfe nur 12,6 Milliarden ausgezahlt worden. Von den übrig gebliebenen 37,4 Milliarden seien 25 Milliarden in das neue Programm der Überbrückungshilfe umgewidmet worden, 12,4 Milliarden seien zurück in den allgemeinen Bundeshaushalt geflossen.
„Und von den 12,6 Milliarden Euro, die ausgezahlt wurden, werden Teile jetzt in großer Summe massiv zurückgefordert, teilweise sehr aggressiv und mit extrem kurzen Zahlungsfristen von einem Tag“, sagt Andreas Lutz.

Dr. Andreas Lutz übt als Vorsitzender im Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland massive Kritik an den Förderbedingungen der Corona-Hilfe für Soloselbstständige und Kleinunternemer. © Thomas Dreier/VGSD/dpa
Der VGSD, so Lutz, habe eine Umfrage durchgeführt und 27.000 Betroffene hätten sich daran beteiligt. Das Ergebnis: 63 Prozent hätten weniger als 1.000 Euro im Monat an Soforthilfe erhalten, 43 Prozent sogar weniger als 500 Euro.
Verweis auf Hartz IV führt in vielen Fällen nicht weiter
Das Bundeswirtschaftsministerium argumentiert, für die Sicherstellung des Lebensunterhalts sei die Soforthilfe nicht gedacht, dafür gebe es Hartz IV. „Dabei hat man versprochen, dass das Geld in diesen Fällen ohne Vermögensprüfung gezahlt wird, doch das war dann doch nicht so“, berichtet Lutz. Stattdessen habe es Vermögensgrenzen gegeben: 60.000 Euro bei einem Alleinstehenden, 90.000 Euro bei einem Paar. Alles darüber hinaus werde bei der Prüfung, ob es Hartz-IV-Hilfe gebe, angerechnet.
Das klingt auf den ersten Blick durchaus sinnvoll und gerecht, aber Lutz erklärt: „Ein Großteil der Betroffenen ist zwischen 50 und 60 Jahre alt. Viele von ihnen haben nur noch eine relativ kurze Zeit bis zur Rente. Sie haben für ihr Alter vorgesorgt, indem sie Geld für die Rente angelegt haben, in Aktien, Fonds, Zertifikaten. Das wird Selbstständigen ja seit Jahren empfohlen. Das sei besser als in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen, hat man ihnen gesagt. Wenn sie diese Ersparnisse jetzt auflösen, was bleibt dann für die Rente?“
Er kenne Einzelfälle, über die er nur den Kopf schütteln könne, sagt Lutz: „Von einem Fotografen weiß ich, dem hat man gesagt: Er müsse zunächst seine teure Kamera verkaufen, bevor er Hartz IV beantragen könne. Und wie soll er arbeiten, wenn er das wieder darf?“
Die für Selbstständige absurde Steuerberater-Pflicht
Und dann gebe es noch andere, geradezu absurde Punkte: Das neue Programm, die Überbrückungshilfe, sei nicht nur für Soloselbstständige und Kleinbetriebe mit weniger als zehn Beschäftigten gedacht, sondern für Firmen mit bis zu 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das neue Programm, das wie die Soforthilfe zuvor ebenfalls nur für betriebliche Sachaufwendungen gelte, passe auf diese etwas größeren Firmen, aber nicht für die ganz Kleinen, sagt Lutz und verweist auf einen Passus in den Förderbedingungen.
Im Eckpunktepapier der Bundesregierung vom 3. Juni heißt es: „Geltend gemachte Umsatzrückgänge und fixe Betriebskosten sind durch einen Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer in geeigneter Weise zu prüfen und zu bestätigen.“
Für Andreas Lutz ist das ein Unding: „Das mag ja für größere Betriebe sinnvoll sein, aber für einen Soloselbstständigen, der vielleicht 100 oder 200 Euro im Monat aus dem Programm erstattet kriegt? Der kann das Geld dann direkt an den Steuerberater weiterreichen.“
In anderen Ländern läuft es besser, sagt Andreas Lutz
Er hält es für fatal, wie die Corona-Unterstützung für kleine Selbstständige in Deutschland gehandhabt wird. „Schauen Sie nach Holland oder Belgien, da gibt es 1.200 bis 1.500 Euro Entschädigung, auch für den Unterhalt. Oder England. Da schreibt das Finanzamt die Betroffenen sogar von sich aus an, sagt, man wisse ja aus den Vorjahren, was jemand verdiene und ihm stünden bis zu 2.500 Pfund zu. Man müsse nur seinen Umsatzeinbruch glaubhaft machen, dann bekomme man das Geld. So geht es auch“, sagt Lutz.
„Das Vorgehen in Deutschland schadet dem Image der Selbstständigen in unserem Land. Wir werden ein Land der Beamten und Angestellten“, sagt Lutz. „So werden wir die Digitalisierung in Deutschland nie schaffen. Wir schaden uns selbst“, sagt er und Noam Zur kann ihm nur beipflichten.
Ihm selbst gehe es ja noch vergleichsweise gut, da er eine Frau habe, die als Angestellte – wenn auch in Kurzarbeit – noch Geld verdiene. „Für mich ist es nicht schön und ein wenig Zukunftsangst habe ich auch, aber für ganz viele andere Betroffene geht es ums nackte Überleben.“
Anmerkung d. Red.: In einer ersten Version dieses Textes stand, Noam Zur habe Einnahmeausfälle von 120.000 Euro. Richtig ist: es sind 20.000 Euro.
Ulrich Breulmann, Jahrgang 1962, ist Diplom-Theologe. Nach seinem Volontariat arbeitete er zunächst sechseinhalb Jahre in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten, bevor er als Redaktionsleiter in verschiedenen Städten des Münsterlandes und in Dortmund eingesetzt war. Seit Dezember 2019 ist er als Investigativ-Reporter im Einsatz.
