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Hunderttausende Pflegebedürftige ohne Hilfe aus Osteuropa – Betreuungskollaps droht
Coronavirus
300.000 pflegebedürftige Menschen können in Deutschland nur zu Hause leben, weil osteuropäische Betreuungskräfte ihnen helfen. Diesem System droht wegen der Corona-Krise ab Osten der Zusammenbruch.
Wenn der Opa oder die Oma der Familie nicht mehr alleine zurechtkommt, dann ist in 300.000 Haushalten in Deutschland eine Betreuungskraft aus dem Osten gefragt. Die sorgt dann dafür, dass der pflegebedürftige Mensch nicht in ein Heim muss und die Angehörigen trotzdem ihrem Beruf nachgehen können. Die Corona-Krise könnte dieses seit Jahren laufende System zum Einsturz bringen.
„Wir gehen davon aus, dass ab Ostern 100.000 bis 200.000 Menschen schrittweise nicht mehr zu Hause versorgt sind“, sagt Frederic Seebohm. Als Geschäftsführer des „Verbandes für häusliche Betreuung und Pflege“ mit Sitz in Berlin befürchtet er, dass ein Großteil der bisher in Deutschland arbeitenden Betreuungskräfte – die meisten von ihnen kommen aus Polen – schon bald nicht mehr hier arbeiten können oder wollen. Dafür listet er fünf Gründe auf:
Das große Problem der Schwarzarbeit
1. „90 Prozent der Betreuungskräfte aus Osteuropa in den 300.000 Haushalten arbeitet schwarz hier. Nur ein kleiner Teil arbeitet legal.“ Das wirke sich an der deutsch-polnischen Grenze aus: „Deutschland hat eine Einreisesperre erlassen. Ausnahmen gibt es nur für Pflege- und Betreuungskräfte. Dazu muss man an der Grenze einen Anstellungs- oder Auftragsvertrag vorlegen. Den aber haben Schwarzarbeiter nicht“, sagt Seebohm.
Auch wenn man eine Agentur eingeschaltet habe, könne es Probleme geben: „Es gibt Agenturen, die nennen sich zwar so, arbeiten aber trotzdem schwarz“, sagt er. Dass ein so großer Prozentsatz schwarz arbeite, liegt daran, dass sie im Monat rund laut VhBP rund 800 bis 1000 Euro billiger arbeiten als regulär versicherte, legal arbeitende Betreuungskräfte.
Die neue Quarantänepflicht und die Angst
2. Seit Freitag (27. März) gelte in Polen wieder eine Quarantänepflicht, wenn man aus Deutschland nach Polen einreise: „Das heißt, man muss erst einmal 14 Tage in Quarantäne“, sagt Seebohm. Wer nach seiner Zeit als Betreuungsperson in Deutschland zurück nach Hause wolle, komme in Quarantäne. „Wer will das schon?“
3. Dann gebe es drittens, sagt Seebohm, noch einen psychologischen Aspekt, die Angst der Betreuungspersonen. „In Osteuropa ist das Gesundheitssystem seit Jahren personell ausgeblutet. Wenn ich aber Angst haben muss um meine Familie daheim, wenn sie erkranken sollte, mache ich mich dann wirklich auf den Weg nach Deutschland?“
Ein ganz praktisches Hindernis
4. Hinzu komme ein rein praktisches Transportproblem. Seit Jahren nutzten die Betreuungskräfte vor allem Fernbusse, also Flixbusse und Sindbadbusse. „Die fahren aber nicht mehr“, sagt Seebohm. Und in den Kleinbussen für neun Personen, die oft genutzt worden seien, müsse jetzt nach den neuesten Vorschriften jeder zweite Platz frei bleiben: „Wie also bringen Sie die Menschen nach Deutschland?“
5. Und dann stelle man sich vor, dass man in Deutschland das Coronavirus in den Griff bekomme, die Zahlen in Osteuropa aber weiter explodieren. „Wer“, fragt Seebohm, „nimmt dann jemanden aus Osteuropa bei sich auf?“
Nur zwei Auswege zeichnen sich ab
Er wisse nicht, sagt Frederic Seebohm, wie das Problem zu lösen sei. Die Alten- und Pflegeheime seien ohnehin voll und in der Coronakrise überlastet, Tagespflegeeinrichtungen seien geschlossen, Plätze in der Kurzzeitpflege nicht zu bekommen.
Er sehe eigentlich nur zwei Auswege: „Familienangehörige müssten die Betreuung übernehmen und dafür von der Arbeit so freigestellt und entschädigt werden wie die Eltern von Kindern, die nicht in die Kita dürften. „Oder man gewinnt etwa über eine Internet-Plattform Honorarkräfte, die betreuungsbedürftige Menschen vorübergehend in häuslicher Gemeinschaft versorgen. Bis Betreuungspersonen aus Osteuropa wieder einreisen dürfen und wollen.“
Ulrich Breulmann, Jahrgang 1962, ist Diplom-Theologe. Nach seinem Volontariat arbeitete er zunächst sechseinhalb Jahre in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten, bevor er als Redaktionsleiter in verschiedenen Städten des Münsterlandes und in Dortmund eingesetzt war. Seit Dezember 2019 ist er als Investigativ-Reporter im Einsatz.
