Linda Powell gehört zu den ersten, die sich am schwülen Freitagmorgen vor dem New Yorker Sitz des Streaming-Riesen Netflix am Broadway nahe des Union Square eingefunden haben. Fotografiert werden möchte die Schauspielerin nicht, sprechen schon. Sie gehört zu denjenigen Mitgliedern der Schauspielgewerkschaft SAG-AFTRA, die seit Mitternacht streiken - die Verhandlungen mit dem Verband der TV- und Filmstudios AMPTP über bessere Vergütung und die Regelung des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz (KI) waren zuvor gescheitert.
„Ich hatte gehofft, dass mit dem Streik der Drehbuchautoren schon genug Druck aufgebaut worden sei“, sagt Powell, die mit am Verhandlungstisch saß. „Das war nicht der Fall“. Nun mobilisiert die Gewerkschaft zum Streik: nicht nur in Los Angeles, sondern auch an anderen bedeutsamen Standorten für die US-Filmbranche, darunter New York und Atlanta im Bundesstaat Georgia.
12:01 a.m. PT
— SAG-AFTRA (@sagaftra) July 14, 2023
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Es ist der erste Doppelstreik von Schauspielern und Drehbuchautoren in den USA seit mehr als 60 Jahren. Der Betrieb dürfte landesweit auf unbestimmte Zeit still liegen. Der Streik ist vor und hinter der Kamera zumindest für alle gewerkschaftlich organisierten Schauspieler der mehr als 160.000 Mitglieder zählenden SAG-AFTRA verbindlich. Ihr gehören unter anderem auch Stuntleute und TV-Journalisten an.
Die Dreharbeiten zu zahlreichen Filmen wurden eingestellt, darunter „Deadpool 3“ und die „Gladiator“-Fortsetzung. Auch etliche Serien sind betroffen. Außerdem dürfen Gewerkschaftsmitglieder ihre Arbeit nicht mehr bewerben. So musste die Deutschland-Premiere von „Barbie“ am Samstag ohne Stars auskommen. Hauptdarstellerin Margot Robbie, ihr männliches Pendant Ryan Gosling und die Co-Stars America Ferrera, Issa Rae und Simu Liu sagten ihren Besuch in Berlin ab.
Obwohl viele Hollywood-Stars dem Arbeitskampf prominente Reichweite verleihen, allen voran Gewerkschaftspräsidentin Fran Drescher („The Nanny“), geht es im Kern um all diejenigen, die ihren Lebensunterhalt mit kleineren Nebenrollen oder als Statisten verdienen. Mitglieder von SAG-AFTRA qualifizieren sich ab einem jährlichen Einkommen von 26.000 US-Dollar (knapp 23 000 Euro) für die gewerkschaftliche Krankenversicherung. Ein Großteil erreicht diese Grenze aber schon lange nicht mehr.
Ursachen für Streik in der Filmindustrie
Schuld ist laut Streikenden die Marktherrschaft von Streamingdiensten wie Netflix und Amazon Prime Video, deren Geschäftsmodell - anders als das der Fernsehsender - nur sehr geringe Tantiemen vorsieht. „Tantiemen haben sich einmal gelohnt“, sagt Powell, die in drei Folgen der Netflix-Serie „House of Cards“ eine fiktive US-Außenministerin spielt. „Viele Leute denken, wir sind alle Stars, aber wir kämpfen hier für diejenigen, die gerade so über die Runden kommen.“
Etwas weiter nördlich, vor dem NBC-Hauptquartier am Rockefeller Center, versucht eine Angestellte der hauseigenen Security-Firma, rund 50 Streikende und die anwesende Presse in einem eigens für den Streik abgezäunten Bereich zu halten. Inmitten des Trubels macht Keith Fennelly eine kurze Verschnaufpause. Bezahlung sei die eine Sache, erklärt der mit seinen Schauspielkollegen solidarische Requisiteur („The Marvelous Mrs. Maisel“, „Billions“). Ihm gehe es aber auch „um Würde und das Handwerk als Künstler“. Damit bezieht er sich auf den Aufstieg von KI.
Während immer intelligenter werdende Chatbots wie ChatGPT Angehörige der schreibenden Zunft um ihren Job bangen lassen, fürchten auch Schauspielende, dass KI ihr Abbild, ihre Stimme oder ihre Darbietungen ohne Zustimmung oder Entschädigung nutzen könnte. „Das ist so unmenschlich“, sagt Fennelly und fügt hinzu: „Das ist ein Kampf wie nie zuvor.“
In diesen Kampf hat sich in der Mittagshitze am Times Square auch ein bekannter Straßenkünstler eingereiht: Auf der Gitarre begleitet der Naked Cowboy die Streikenden musikalisch. Verwunderte Touristen drehen sich um, machen Fotos. „Stand up, fight back“, singt der spärlich bekleidete Mann mit Cowboyhut und -stiefeln in USA-Optik, der im echten Leben Robert John Burck heißt.
Der Naked Cowboy neben Streikenden: Es ist ein symbolträchtiges Bild dieses Disputs, bei dem sich viel Wut an die Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder der größten US-Medienkonzerne richtet. Kurz vor dem Scheitern der Gespräche hatte Disney-CEO Bob Iger die Forderungen der Gewerkschaft beim US-Fernsehender CNBC als „nicht realistisch“ bezeichnet und vor den Kollateralschäden eines Streiks gewarnt. „Aufgrund der schieren Größe der Branche“ würde dieser „Auswirkungen auf die Wirtschaft verschiedener Regionen haben“, sagte Iger. Und: „Es ist eine Schande, es ist wirklich eine Schande.“
Nach Ansicht vieler Gewerkschaftsmitglieder haben Iger und andere den Bezug zum Alltag von Normalverdienenden verloren. „Von jemandem, der mehr als 20 Millionen Dollar pro Jahr verdient und mehrere Häuser besitzt, kann man nicht erwarten, dass er versteht, wie es ist, sich mit 26.000 Dollar abmühen zu müssen“, sagt der Schauspieler Mehdi Barakchian im Telefongespräch über seinen Protest vor dem Disney-Hauptquartier im kalifornischen Burbank.
Ihn stört besonders, dass die Zuschauerdaten bei Streamingdiensten streng unter Verschluss gehalten werden. Eine Forderung von SAG-AFTRA ist deshalb auch, ein externes Datenunternehmen anzuheuern, um ein Modell für Tantiemen basierend auf dem Streaming-Erfolg von Filmen und Serien einzuführen. „Sie nehmen die Arbeit, die wir geleistet haben, sie wird millionenfach angesehen“, klagt Barakchian, der in der ersten Szene des Netflix-Hits „You“ einen „Mann aus Brooklyn mittleren Alters“ spielt. „Und dann werden wir so bezahlt, als wenn es nur einmal benutzt worden wäre.“
Barakchian attestiert dem Protest trotz streikbedingt ausbleibender Zahlungen eine lange Ausdauer: „Sie denken, dass es uns erst jetzt weh tut. Aber die Realität ist: Es geht uns schon seit Jahren schlecht.“
US-Schauspieler streiken: Margot Robbie kommt nicht nach Deutschland
Der deutsche Bundesverband Schauspiel unterstützt den Schauspielerstreik. „Von uns bekommen sie volle Solidarität. In der deutschen Branche haben wir dieselben Probleme", sagte das Vorstandsmitglied Hans-Werner Meyer der Deutschen Presse-Agentur am Freitag. Die Lage sei in der deutschen Schauspielbranche jedoch noch nicht so zugespitzt. Derzeit gebe es noch auf allen Ebenen Verhandlungen. „Wir sind noch nicht an dem Punkt, dass wir streiken müssten." Der Verband vertritt nach eigenen Angaben die berufsständischen sowie die gewerkschaftlichen Interessen der Schauspielerinnen und Schauspieler in Deutschland.
Gosling („La La Land", „Blade Runner 2049") und Robbie („I, Tonya", „Bombshell – Das Ende des Schweigens") werden zur Barbie-Premiere nun nicht auf dem roten Teppich in Berlin erscheinen. Auch eine Pressekonferenz am Nachmittag entfalle. Die Premiere im Berlinale-Palast soll laut Agentur dennoch stattfinden - allerdings ohne die Hauptdarsteller. Der Film startet am kommenden Donnerstag (20.7.) in den deutschen Kinos.
Schauspieler-Streik: Gibt es direkte Auswirkungen für Zuschauer?
Nach Einschätzung von US-Medien können nun kaum noch Filme und Serien gedreht werden. Mit wenigen Ausnahmen müssten nun alle Dreharbeiten mit Schauspielerinnen und Schauspielern vor der Kamera eingestellt werden, hieß es von der SAG-AFTRA. Zudem dürfen die Gewerkschaftsmitglieder eben auch keine Arbeit hinter der Kamera übernehmen, wie etwa Synchronsprecharbeiten, oder ihre Filme und Serien durch Werbeauftritte und Interviews bewerben. Die Gewerkschaft kündigte an, diese Bedingungen streng kontrollieren zu wollen.
Es wird noch dauern, bis Kinobesucherinnen und Kinobesucher die Auswirkungen der Streiks bemerken, da die meisten Blockbuster für dieses Jahr bereits abgedreht sind. Doch im TV-Bereich dürfte sich die Wirkung schneller entfalten. Schon der Streik der Drehbuchautorinnen und -autoren hatte der Branche zugesetzt: In den Vereinigten Staaten werden bereits Wiederholungen von Late-Night-Shows ausgestrahlt und eine große Zahl der Fernseh- und Filmproduktionen hat die Arbeit eingestellt oder unterbrochen. Wenn sich der Doppelstreik gegebenenfalls Monate hinzieht, könnten sich neue Staffeln populärer Sendungen verzögern.
Auch die deutsche Gewerkschaft sei fähig, in den Arbeitskampf zu gehen, unterstrich Vorstandsmitglied Meyer. „Auch in Deutschland steigt die Unzufriedenheit mit den Gehältern." Das habe multiple Ursachen: Einerseits spürten auch die hiesigen Schauspielerinnen und Schauspieler die Inflation. Und andererseits stünden nicht nur viele Streamingdienste massiv unter Druck. „Die Öffentlich-Rechtlichen sparen beim Fernsehen und produzieren stattdessen für die Mediathek", sagte Meyer.
Ebenso wie die US-Schauspielgewerkschaft kritisiert Meyer die bislang fehlende Regulierung Künstlicher Intelligenz (KI). Das verweigerten die Studios bislang. „Das betrifft unser aller Zukunft und birgt am meisten Konfliktpotenzial", sagt Meyer. Das Problem sei, dass KI mit urheberrechtlich geschütztem Material gefüttert werde, für das die Kreativen keine Vergütung erhielten. Im Umkehrschluss mache das die Urheber überflüssig, so Meyer. Auf dem Markt gebe es bereits Software, die etwa Synchron- oder Hörbuchstimmen imitieren könne. „Wie sehr das Schauspielerinnen und Schauspieler betreffen wird, ist noch unklar, aber die Sorge ist ganz real."
dpa
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