
© Frank Bergmannshoff
Wie es dazu kam, dass der obdachlose Herr Ahmed Weihnachten im Auto erlebt
Aus dem Leben gefallen
Seit August ist Rukhsar Ahmed wohnungslos. Sein Zuhause ist ein VW Polo. Auch Weihnachten wird der gebildete, freundliche Deutsch-Pakistaner darin verbringen. Wie konnte es so weit kommen?
In Berichten, Statistiken und politischen Diskussionen über Wohnungslosigkeit ist stets die Rede davon, dass immer wieder Menschen durch Krankheit, Krisen oder Schicksalsschläge aus ihrem geordneten Leben fallen und sich plötzlich am Rand der Gesellschaft wiederfinden. Rukhsar Ahmed gibt diesen abstrakten Worten ein Gesicht.
Bis vor vier Monaten führte der 42-Jährige ein – von Problemen in der Ehe abgesehen – relativ normales Leben. Der gelernte Immobilienkaufmann, dem seit einem Unfall der linke Arm fehlt, hatte ein geregeltes Einkommen. Heute besitzt Ahmed nur noch einen alten VW Polo mit einigen Habseligkeiten im Kofferraum sowie eine Postadresse bei der Diakonie an der Ewaldstraße in Herten-Süd – damit er wenigstens Behördenbriefe empfangen kann.
Was der ruhig, freundlich und gebildet sprechende Mann außerdem hat, sind insgesamt sechs Kinder – fünf eheliche und ein uneheliches. Damit ist auch schon einiges gesagt darüber, wie Ahmeds Abstieg seinen Anfang nahm. Am 17. August kam es zu Hause, zu diesem Zeitpunkt noch in Recklinghausen, zum Zerwürfnis. Halb flog er raus, halb ging er freiwillig – so schildert Rukhsar Ahmed den Abschied aus seinem bis dahin gewohnten Leben.
Kein Job, keine Wohnung und Scharmützel mit dem Jobcenter
Er sei in eine psychische Krise geraten und habe sich nicht mehr in der Lage gesehen, arbeiten zu gehen. Dem schnellen Einzug in eine neue Wohnung habe das Jobcenter nicht zugestimmt. Überhaupt erzählt der Deutsch-Pakistaner wenig Positives über die Hartz-IV-Behörde, schildert bürokratische Scharmützel. Anders als die Recklinghäuser Dienststelle habe ihm das mittlerweile zuständige Hertener Jobcenter immerhin einen 30-Euro-Lebensmittelgutschein gewährt. Inzwischen habe er auch Geldleistungen in Aussicht. „Als Obdachloser bekomme ich die aber immer nur für drei Monate gewährt“, sagt Rukhsar Ahmed. Einen Schufa-Eintrag hat er obendrein, was die Suche nach einer Wohnung zusätzlich erschwert.
„Sitzheizung ist bei dieser Kälte Gold wert“
Aus einer Unterkunft in Recklinghausen-Suderwich zog er sofort wieder aus: „Die anderen Bewohner haben Alkohol und Drogen konsumiert, das habe ich nicht ausgehalten.“ Und so lebt Ahmed in seinem VW Polo, der speziell für das Steuern mit nur einer Hand umgebaut ist. „Zum Glück habe ich eine Sitzheizung, die ist bei dieser Kälte Gold wert“, sagt Ahmed. Nachts läuft er oft stundenlang herum, bis die Blasen an den Füßen schmerzen, denn sitzend lassen sich die frostigen Temperaturen kaum aushalten. Da helfen auch die winddichte, neongelbe Jacke und die graue Arbeitshose nicht.

Rukhsar Ahmed lehnt an seinem alten, dunkelblauen VW Polo: Der Kleinwagen ist seit rund vier Monaten sein Zuhause. © Frank Bergmannshoff
Für unser Gespräch treffen wir Rukhsar Ahmed an der Dr.-Loewenstein-Straße in Herten-Süd. Er parkt dort am Straßenrand, war zuvor in Marl, ist eine halbe Stunde vor dem vereinbarten Termin angekommen und erschöpft eingenickt. Durch das Klopfen an der Seitenscheibe schreckt er auf.
„Ab und zu komme ich mal für eine Nacht bei Freunden unter“, erzählt Ahmed. Zwar ist der Tank immer fast leer, doch tagsüber pendelt Ahmed zwischen Freunden und anderen Anlaufpunkten in Herten, Recklinghausen und Marl, parkt und schläft heute hier, morgen dort. Für kleine Gefälligkeiten wie Fensterputzen bekommt er manchmal in einer Pizzeria etwas zu essen. „Ein älterer Mann, der selbst von Grundsicherung lebt, hat mir einen Schlafsack geschenkt“, berichtet Rukhsar Ahmed mit Dankbarkeit in den Augen und hebt hervor: „Ich bekomme Hilfe von Menschen, die selbst nichts haben.“
„Ich ziehe jeden Tag frische Unterwäsche an“
Bei einem Bekannten, den er zufällig in Herten am Kontoauszugsdrucker traf, darf er jetzt Wäsche waschen. „Ich ziehe jeden Tag frische Unterwäsche an“, betont der 42-Jährige. Er will sich nicht gehen lassen, will den Weg zurück in ein geordnetes Leben nicht aus dem Blick verlieren, bemüht sich – mit mäßigem Erfolg – um Vorstellungsgespräche. Im Beifahrer-Fußraum seines VW Polo stehen zwei Postablagefächer, in denen er Behördenbriefe und Korrespondenz ordentlich verwahrt.
Kurz nach dem Auszug hatte er noch versucht, sich mit Hausmeisterdiensten, Trockenbau und Gartenarbeit selbstständig zu machen. „Da ahnte ich ja noch nicht, dass mein Weg durch die Armut so lange dauern würde“, blickt Ahmed zurück. Doch schnell realisierte er: „Ohne Wohnung geht nichts. Ich kann mir morgens nicht mal die Zähne putzen, wie soll ich da zu einem Kunden gehen?“
Erdnüsse und Mandarinen für etwas Weihnachtsstimmung
Auf der Rückbank des VW Polos liegen große Kartons, im Kofferraum steckt die Bettdecke. Rukhsar Ahmed sitzt am Steuer und zeigt weiteres „Inventar“: ein kleiner Kaktus in einer Plastikdose, ein Luftentfeuchter, weil eine Fensterscheibe beschädigt ist – und eine braune Schale mit Erdnüssen und Mandarinen. „Das ist meine Weihnachtsstimmung“, sagt der sechsfache Vater. Außer dem Handy besitzt er keine Wertgegenstände, die hat er in Recklinghausen im Pfandhaus zu Geld gemacht.

Vor dem "Pickup"-Kiosk in Herten-Süd, in dem Rukhsar Ahmed sich ab und zu einen Kaffee holt, zeigt er eine neu gekaufte Wanduhr: "Für meine neue Wohnung!“ © Frank Bergmannshoff
Ahmeds Blick fällt auf eine Packung mit „Zauber-Filzstiften“ und einen Karton mit einem blauen Spielzeug-Geländewagen. „Das habe ich für einige Euros bei Aldi gekauft, damit ich meinen Kindern wenigstens etwas Kleines zu Weihnachten schenken kann“, sagt Rukhsar Ahmed mit Tränen in den Augen. „Ich bin von ganzem Herzen Vater! Wenn ich einschlafe, sehe ich oft meine Kinder vor mir.“ Wo und wie er selbst Heiligabend verbringt? „Fragen Sie nicht...“
Eine Wanduhr als Ausdruck der Hoffnung
„Ich will kein Mitleid“, betont der 42-Jährige. Es sei ihm wichtig, Schulden und „Deckel“ immer so schnell wie möglich zurückzuzahlen. Nur ein paar Schritte von seinem geparkten Polo entfernt, am „Pickup“-Kiosk, kauft sich Rukhsar Ahmed für einen Euro einen heißen Kaffee. Vor dem Eingang zeigt er mit hoffnungsvollem Blick einen Karton mit einer Wanduhr: „Die habe ich mir schon mal gekauft. Für meine neue Wohnung!“
Kind des Ruhrgebiets, aufgewachsen in Herten und Marl. Einst Herausgeber einer Schülerzeitung, heute Redaktionsleiter, Reporter, Moderator. Mit Leidenschaft für hintergründigen, kritischen Journalismus – mit Freude an klassischer Zeitung – mit Begeisterung für digitale Formate – mit Herz für Herten. Unterwegs mit Block und Kamera, Smartphone und Laptop in allen Themenfeldern, die die Menschen bewegen. Besonders gerne hier: Politik, Stadtentwicklung, öffentliche Daseinsvorsorge, Energiewirtschaft, Gesundheitswesen, Digitalisierung, Blaulicht.