Wir treffen Hans Rosenthal („Ja, wie der Quizmaster“) im Zimmer 301 der Palliativ-Station des Elisabeth-Krankenhauses in Süd. An seiner Seite sitzen Tochter Monika Wulf und Enkelin Tina. Am 1. Dezember hat der 99-Jährige sein Zuhause in Recklinghausen verlassen. Er wusste, dass es ein Abschied für immer ist, dass er vom Krankenhaus direkt ins Hospiz zum heiligen Franziskus gehen wird, sobald ein Platz frei wird. Dort möchte er in Ruhe sterben. Und was zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen kann: Am 21. Dezember geht sein Wunsch in Erfüllung.
Dr. Annette Wallny, Oberärztin der Palliativ-Station, kommt an diesem Montagmorgen (18.12.) mit einem Lächeln in das Zimmer, das ahnen lässt, dass sie gute Nachrichten hat. „Haben Sie gehört, Herr Rosenthal? Morgen werden Sie ins Hospiz verlegt.“ Ein „freier Platz“ im Sterbehaus bedeutet, dass andere Menschen dort den Weg gegangen sind, den Hans Rosenthal noch vor sich hat. „Ich freue mich“, sagt er zu der Ärztin. Aber im Moment erfüllt es ihn mit Erleichterung, dass Dr. Wallny den Zugang aus der Hand entfernt, der ihn arg piesackt.
Zweieinhalb Wochen lang wurde Hans Rosenthal auf der Palliativstation umsorgt. Herz, Nieren und auch die Lunge sind nach 99 Jahren so geschwächt, dass keine Besserung möglich ist. Er ist einer dieser Patienten, denen die Medizin durch gezielte medizinische und therapeutische Angebote nur noch Linderung verschafft, sodass die Zeit, die ihm bleibt, möglichst schmerz- und beschwerdefrei sein wird. „Für uns war es eine gute Zeit hier“, sagt die Tochter. „Alle hier auf der Station sind so lieb und fürsorglich, wir fühlen uns gut aufgehoben.“ Die Ärztin freut sich über das Lob. Dennoch lässt sie Hans Rosenthal gern ziehen. „Wir haben hier gute Bedingungen für unsere Patienten und ihre Angehörigen. Aber das Hospiz kann sie allein aufgrund des Personalschlüssels noch intensiver betreuen.“

Engelchen und Gesteck ziehen mit ins Hospiz
Mit den wenigen Dingen, die Hans Rosenthal im Krankenhaus benötigt, wird seine Tochter auch das Engelchen und das kleine Adventsgesteck einpacken, mit dem sie das Zimmer ein wenig heimelig gemacht hatte. „Eigentlich war es mehr für mich als für meinen Vater. Ich brauche etwas Deko in dieser Zeit“, gesteht sie. Vor 73 Jahren wurde sie geboren, hat Hans Rosenthal damit zum glücklichen Papa gemacht. Viele schöne Weihnachtsfeste haben Sie zusammen gefeiert. „Jetzt habe ich überhaupt keinen Sinn mehr für Weihnachten“, sagt er.
Dabei hat er das Fest immer geliebt. Eigentlich wälzen Männer den Weihnachtseinkauf auf die Frauen der Familie ab. Nicht so Hans Rosenthal. Mit großer Freude hat er die Gaben für seine Lieben selbst ausgesucht, sei es Spielzeug für die Urenkel oder Mode für die Enkelin. „Opa hat mir tolle, hochwertige Oberteile gekauft, die ich mir selbst nie geleistet hätte“, erzählt Tina Wulf und lächelt ihren Großvater liebevoll an. „Die ziehe ich gern an.“ In diesem Jahr wird es zum ersten Mal keine persönlich ausgesuchten Geschenke vom Opa geben. Das macht die Erinnerung, an das, was nie wieder kommt, schon jetzt kostbar.
Abschied auf Raten seit vier Jahren
Der Abschied auf Raten, er begann im November 2019. Da untersagte der Arzt Hans Rosenthal, weiterhin Fahrrad zu fahren. Bis dahin hatte der Senior seinen geliebten Drahtesel noch aus dem Keller geschleppt – obwohl die Enkelin ihm immer wieder angeboten hatte, das zu übernehmen, sich drauf geschwungen und seine Besorgungen erledigt. Aber der Rücken spielte nicht mehr mit, es wurde zu gefährlich. „Seitdem ging es bergab“, sagt Hans Rosenthal. Die Krankheiten nahmen überhand, er wurde immobil. Zuletzt war die Treppe in den ersten Stock zu seiner Wohnung ein riesiges Hindernis.
Ans Sterben hatte er in dieser Phase schon öfter gedacht. Im nun zu Ende gehenden Jahr, das ein ständiges Hin und Her zwischen Wohnung, Krankenhaus und Kurzzeitpflege war, dachte er auch laut darüber nach, nachzuhelfen. „Solche Gedanken kommen jedem, dem es so schlecht geht. Da kann mir keiner was erzählen“, betont er energisch. Aber die Kinder machten ihm bewusst, dass diese Lösung auch für sie zu grausam wäre. „Ich hätte das nicht ertragen“, sagt die Tochter. Dass der Tod nun kommt, wenn es soweit ist, der Vater dabei palliativ bestens versorgt wird, kann sie akzeptieren: „Natürlich ist es schwer, aber wenn er leidet, darf er gehen.“

„Ich würde alles wieder genauso machen“
Die täglichen Besuche sind nicht nur traurig. Hans Rosenthal hat zwar den Lebenswillen, aber nicht seinen Humor verloren. Er lacht viel, vor allem, wenn er von früher erzählt. Seinem Leben, das sich in zwei Hälften teilt. In der ersten Hälfte war er Berglehrling, im Krieg als Marinemitglied vor allem auf Schiffen im Einsatz, die die Soldaten an die Front brachten oder später versuchten, sie zurückzuholen. Nach der Gefangenschaft ging er zurück zur Zeche, war als Bohrmeister in verantwortungsvoller Position. Seine Frau hatte er bald nach Kriegsende kennengelernt. „Im Busch von König Ludwig haben sich damals die jungen Leute getroffen“, erzählt er. „Das waren Treffen mit Anfassen.“ Die hübsche Edith wollte der junge Hans gar nicht mehr loslassen. Sie heirateten, bekamen 1950 ihre einzige Tochter und waren 40 Jahre glücklich. Edith starb 1987, viel zu früh. Denn Hans, der da schon in Anpassung und damit Frührentner war, hatte doch endlich Zeit für sie.
Der Witwer schaffte es, neu anzufangen. Doris, eine Nachbarin seiner Tochter, wurde die Frau der zweiten Lebenshälfte. Diese Liebe hält schon mehr als 30 Jahre. Zusammen gewohnt haben beide nie. „Wir haben viel unternommen, sind auf Reisen gegangen, waren sogar auf Mallorca“, erzählt er. Doris ist jetzt Mitte 80 und auch nicht mehr gesund. Es bleiben die Besuche und Gespräche.
Die Familie musste aber nie zurückstecken. Hans Rosenthal liebt seine drei Enkel Tim, Tom und Tina, ist stolzer Uropa: „Es ist so interessant, Kinder aufwachsen zu sehen und ihre Entwicklung mitzuerleben.“ Doch jetzt sei es Zeit für ihn zu gehen. Angst vor dem Sterben und dem Tod, die habe er nicht. „Ich bekomme nur Angst, wenn ich in der Flimmerkiste sehe, was in der Welt passiert.“ Denn seine Lieben, die müssten damit klarkommen. „Ihnen wünsche ich ein zufriedenes Leben.“ So eines, wie er es hatte: „Ich würde es nicht eintauschen, sondern alles wieder genauso machen.“
Am Donnerstag, 21. Dezember 2023, ist Hans Rosenthal im Hospiz zum heiligen Franziskus gestorben – nur zwei Tage nach seinem Einzug.
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