Guillermo del Toros bizarrer „Pinocchio“-Film Kleiner Holzkopf überlebt den Faschismus

Von Kai-Uwe Brinkmann
Der kleine Holzkopf durchlebt die Ära des Faschismus
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Dass Guillermo del Toro einen lupenreinen Kinderfilm vorlegen würde (wie Disney jüngst im „Pinocchio“-Remake), stand nicht zu erwarten. Tatsächlich kommt sein „Pinocchio“ viel dunkler, komplexer und tiefgründiger daher – so sehr, dass Kinder überfordert wären.

Mussolini taucht kurz auf

Der Mexikaner mit Hang zum Bizarren, der sich die Regie mit Mark Gustafson teilt, verlegt die Handlung in die Zeit des italienischen Faschismus. Er rechnet ab mit Rattenfänger Mussolini (Kurzauftritt als grotesker Zwerg), der kleine Jungs als Kanonenfutter für seinen Größenwahn missbraucht.

Gleichzeitig trimmt er die Geschichte auf eine traurig süße Parabel über Leben und Tod, Wehmut, Schmerz und Nächstenliebe. Und dann bringt del Toro in seinem ersten Animationsfilm die schrägen Phantasmen unter, die sein Markenzeichen sind: Sein Pinocchio stirbt gleich mehrere Tode.

Skelette begleiten ihn

Kaninchen-Skelette, wie sie Tim Burton gefallen, geleiten den Holzjungen ins Totenreich, wo die Gothic-Karnickel in alle Ewigkeit Karten spielen. Nur durch den Pakt mit einer gutherzigen Fabel-Sphinx kehrt Pinocchio ins Leben zurück.

Gepetto, Grille und Co. sind Puppen aus der Werkstatt von Jim Henson, in fließender Stop-Motion-Technik zum Leben erweckt. Die Bilder haben Tiefenschärfe, die Figuren etwas Knorriges. Pinocchio wirkt fast ungeschlacht in der Holzmaserung, der fiese Zirkusdirektor könnte ein Schurke von Charles Dickens sein.

Regisseur Guillermo del Toro schaut in Gepettos kleine Werkstatt.
Regisseur Guillermo del Toro schaut in Gepettos Werkstatt. Da merkt man erst, wie klein die Puppen sind. © Netflix

Auch bei Netflix zu sehen

Chronist und Erzähler ist die Grille, ihres Zeichens Schriftsteller. Als guter Geist wacht sie über einen Naivling, der nicht ahnt, dass die Welt auch böse ist.

Pinocchio gerät in die faschistische Kadettenschule, lernt Krieg und Heimtücke kennen, hat aber Freunde, die ihm helfen. Das setzt Gedanken in Gang und lässt keinen kalt. Ein meisterlicher Film, neue Lesart, doppelter Resonanzboden. Ab 9.12.2022 bei Netflix, für den visuellen Genuss empfehlen wir einen Kinobesuch.

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