
Am Klimawandel hängt die Zukunft von Grönland, der größten Insel der Welt. © picture alliance/dpa/Ritzau Scanpix
Wo der Klimawandel eine Chance ist: Grönland zwischen Schmelze und Machtspielen
Thema des Tages
Auf Grönland schmilzt das Eis schneller denn je – gerade das macht die Insel so begehrt. Zu Besuch an einem der am meisten umworbenen Flecken der Erde.
Es ist ungewöhnlich warm für einen Tag Ende Juni. 16 Grad. Der Geruch von Fisch liegt über Ilulissat an der Diskobucht in Grönland. Mette Johanson steht auf ihrem Boot und befestigt kleine Fische und Fischreste an Haken. Jeder Haken gehört zu einer orangefarbenen, grünen oder blauen Schnur. 2000 Haken bestückt Johanson.
Mehrere Dutzend Fischerinnen und Fischer arbeiten hier. Möwen fliegen dicht über ihren Köpfen, in der Hoffnung, etwas von den Resten abzubekommen. „Früher“, sagt Bürgermeister Palle Jeremiassen, während er Mette Johanson bei der Arbeit beobachtet, „konnten die Fischer nur im Sommer rausfahren.“ Bis in die 1990er-Jahre war der Fjord vor Ilulissat monatelang gefroren, die Fischerboote kamen nicht durch. Doch seit einigen Jahren ist alles anders, der Fjord friert nicht mehr zu, die kleinen Fischerboote können auch im Winter durch die Eisbrocken manövrieren.
Dieser Fjord ist als Unesco-Welterbe geschützt. Eigentlich. Denn gegen die globale Erderwärmung und die damit einhergehende Eisschmelze hilft der Titel gar nichts.
Grönland im Zentrum im Machtspiel um die Arktis
Aber: „Der Klimawandel hat auch positive Effekte“, sagt Jeremiassen. Nicht nur, dass die Fischerei, die für 95 Prozent der nationalen Einnahmen durch Exporte sorgt, nun sommers wie winters möglich ist, auch der Transport sei einfacher geworden. In Grönland sind die einzelnen Siedlungen und Städte nicht über Straßen miteinander verbunden. „Ihr in Europa habt Autos, hier hat jeder sein Boot“, sagt der Bürgermeister. Und für alle anderen Wege stehen Helikopter, Schneescooter und Hundeschlitten parat. Aber langsam wird es den Fischen zu warm rund um Ilulissat, der Heilbutt, Grönlands größter Exportschlager, zieht nordwärts. Was, wenn der Fisch noch weiter gen Nordpol verschwindet?

Der Hafen von in Ilulissat (Grönland) © picture alliance / Julia Wäschenbach/dpa
Am Klimawandel hängt die Zukunft von Grönland, der größten Insel der Welt. Sie gehört zu Dänemark, macht 98 Prozent der Landesfläche aus und sichert dem ansonsten kleinen skandinavischen Land den direkten Zugang zur Arktis. Mehr als 80 Prozent Grönlands sind mit Eis bedeckt, doch die Frage ist, wie lange noch. Für Grönland ist der Klimawandel Chance und Bedrohung zugleich, nicht nur in der Fischerei. Denn bald wird es an die Verteilung von Land und Ressourcen gehen – und damit um Macht im großen Spiel um die Arktis.
Donald Trump wollte Grönland kaufen - aus strategischen Gründen
Grönland spielt eine wichtige strategische Rolle. Seit den 1970er-Jahren haben US-Regierungen – zuletzt war es Präsident Donald Trump 2018 – vorgeschlagen, die USA sollten Grönland einfach kaufen. Sowohl Dänemark als auch Grönland reagierten so entsetzt wie spöttisch. Doch der jüngste Vorstoß zeugt wie alle anderen davor von der geopolitischen Bedeutung Grönlands.
Politisch gehört Grönland zu Europa, geografisch zu Nordamerika. „Grönland ist Teil der North American Air Defense“, sagt Arktisforscher Michael Paul vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit. „Wenn China oder Russland angreifen würden, könnten die USA Raketen über Grönland abfangen.“
An Bedeutung gewann Grönland als Standort, seit sich die Insel anschickt, unabhängig zu werden. Das Szenario klingt bekannt? Netflix und der dänische Sender DR griffen die Debatte in der vierten Staffel der Erfolgsserie „Borgen“ auf, die im Juni dieses Jahres erschien. In Grönland wird Öl gefunden, sodann werben kanadische, russische und chinesische Firmen um Beteiligung, während die USA erzürnt ist und Dänemark sich um seinen nachhaltigen Ruf sorgt.
Grönland: Eine Insel auf dem Weg in die Unabhängigkeit
Wenngleich das Szenario in „Borgen - Macht und Ruhm“ fiktiv ist, sind einzelne Elemente durchaus reale Herausforderungen. Die Bevölkerung hat sich in großer Mehrheit in einem Referendum für die Unabhängigkeit entschieden. „Der Prozess ist eingeleitet. Die Frage ist nicht, ob Grönland unabhängig wird, sondern wann“, sagt Paul. Die 2021 neu gewählte Regierung trat mit dem Unabhängigkeitsstreben in den Wahlkampf, will schnellstmöglich Fakten schaffen.
Dänemark unterstützt offiziell dieses Begehren. Es geht Kopenhagen dabei einerseits um den sogenannten Blockzuschuss, den Dänemark jährlich zahlt (und der die Hälfte der Ausgaben von Grönland deckt) und darum, nicht länger als kolonialistische Macht wahrgenommen zu werden. Doch zugleich möchte das Königreich Grönland an sich binden, um als Größe im weltpolitischen Poker um die Arktis und ihre Rohstoffe mitzuspielen – und um die Einflüsse seitens der USA und Chinas möglichst gering zu halten.
Grönlands Unabhängigkeit ordnet die Macht in der Arktis neu
Grönland ist eines der größten Gebiete in der Arktis. Die Insel macht Dänemark zum Nordpolanrainer, neben den USA, Kanada, Norwegen und Russland. Und in der Arktis werden unter dem ewigen Eis große Mengen an Bodenschätzen vermutet. Das weckt Begehrlichkeiten, die wiederum Grönland vor eine Zerreißprobe stellen. „Die große Frage wird sein: Wohin driftet Grönland?“, sagt Paul. Dänemark hat bereits die Sicherheitsstrategie für Grönland verstärkt, ohne mit der Regierung in Nuuk zu sprechen. Die USA haben vor zwei Jahren erstmals seit Jahrzehnten wieder eine diplomatische Vertretung auf der Insel eingerichtet.
Die USA verfügen schon lange über eigene Areale auf der Insel. Die Thule Airbase nördlich der Diskobucht, von der aus russische Raketenstarts gut verfolgt werden können, war ein Geschenk der Dänen an die USA, um Grönland nach dem Zweiten Weltkrieg von diesen zurückzubekommen. Gerade wird Thule mal wieder ausgebaut, erzählt Bürgermeister Jeremiassen, dessen Stadt Ilulissat im gleichen Bezirk wie die Airbase liegt. „Aber was genau die da machen, das wissen wir nicht. Das dürfen wir nicht fragen.“
USA verstärkt Präsenz in Grönland - auch, um Russland im Blick zu behalten
Im Gegenzug dafür, dass die Grönländer nicht weiter nachfragen, gaben die USA ein Sicherheitsversprechen. Und das ist möglicherweise nicht ganz unwichtig, nachdem Russland seine Präsenz in der Arktis ausbaut und eine Militärbasis nur 2000 Kilometer von Grönland entfernt, auf Franz-Josef-Land, einrichtete. Russland macht ohnehin seine gesamten Aufklärungsflüge über dem Nordatlantik nahe Grönland, zudem müssen russische Schiffe und U-Boote grönländische Gebiete durchqueren, wenn sie auf direktem Weg zum Atlantik wollen.
Die Präsenz der USA zeigt sich auch andernorts: In der Hauptstadt Nuuk sowie im touristischen Zentrum Ilulissat werden derzeit internationale Flughäfen gebaut, offiziell, um den Tourismus zu fördern. Doch es geht um weit mehr: Die Zahl der Passagierflüge und die von militärischen Flügen der Nato ist am belebtesten Flughafen Grönlands, Kangerlussuaq, ungefähr gleich groß. Da überrascht nicht, dass Dänemark erstmals seit 2009 über den Blockzuschuss hinaus Geld in Grönland investiert – und auch die USA Geld für den Bau bieten.
Das heutige Drehkreuz Kangerlussuaq liegt mehr oder minder im Nirgendwo, gebaut als Militärflughafen von den US-Amerikanern im Zweiten Weltkrieg, als Dänemark von den Deutschen besetzt war und Grönland vorübergehend an die USA fiel. Für die USA war der Flughafen eine strategische Entscheidung, die wenig zu tun hat mit den Bedürfnissen von Grönländerinnen und Grönländern, Geschäftsreisenden oder Touristen.
China: Ein Global Player, der im Grönland-Poker nicht mitspielen darf
China wollte eigentlich auch investieren, wurde aber abgeschmettert. Und das nicht zum ersten Mal. „Vor fünf, sechs Jahren standen wir mit chinesischen Investoren in Gesprächen“, sagt Jeremiassen. „Aber die USA waren nicht so begeistert. Dann wurde die gesamte Kommunikation mit China nach Kopenhagen verlegt.“ Als vor einigen Jahren eine chinesische Firma die Militärbasis Grønnedal kaufen wollte, soll der damalige dänische Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen das persönlich verhindert haben. Derzeit versucht man, China fernzuhalten.
Dass Peking im Arktisspiel mitspielen will, ist bekannt. Immer wieder versuchen sich chinesische Firmen in Grönland zu etablieren, sie wollen nach den vermuteten Bodenschätzen suchen. Je mehr Eis schmilzt, desto größer wird die Chance, tatsächlich Ressourcen zu finden. Die Bodenschätze sind die Hoffnung Grönlands auf Souveränität, denn sie könnten die Insel finanziell unabhängig von Dänemark machen.
Grönland hofft auf Geldsegen durch Hydrothermie und den Abbau seltener Erden
Um das heiß begehrte, kostbare Erdöl der Arktis geht es dabei weniger. Nuuk kündigte bereits an, keine fossilen Stoffe fördern zu wollen. Ob das Land aber dauerhaft dem Geldsegen widerstehen kann, durch den sich die Unabhängigkeit erkaufen ließe, wird die Zeit zeigen.
Vorerst geht es um andere Ressourcen: Seltene Erden, die für die Elektrotechnik benötigt werden, und Wasserkraft. Um die seltenen Erden, ein Markt, den China zu 80 Prozent dominiert, und auch Uran zu fördern bedarf es neuer Bergwerke.

Nirgendwo auf der Welt schreitet die Gletscherschmelze so schnell voran wie auf Grönland. © picture alliance / dpa
Die Infrastruktur reicht dafür bisher aber nicht aus. Es gibt weder genug ausgebildetes Personal, noch generell genug Arbeitskräfte vor Ort, und für externe Kräfte fehlt es nicht zuletzt an Wohnraum. Dennoch: Schmilzt das Eis, wird Land frei, das bebaut und bewohnt werden kann. Der Zugang zu den Bodenschätzen würde einfacher.
Nirgendwo auf der Welt schreitet die Gletscherschmelze so schnell voran. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Eisgrenze an der Diskobucht um 30 Kilometer ins Landesinnere zurückgezogen. Der Eisschild verliert 277 Gigatonnen im Jahr, jede Minute verschwindet also Eis im Gewicht von drei der größten Aida-Kreuzfahrtschiffe. Prognosen gehen davon aus, dass Grönland in 1000 Jahren eisfrei sein wird. Die Megametropole New York würde dann wohl weitestgehend im Wasser verschwinden, so hoch würde der Meerespegel steigen.
Grönland hat durch den Klimawandel ein wichtiges Gut en masse: Trinkwasser
Die Gletscherschmelze führt aber auch dazu, dass Grönland über ein begehrtes Gut in großer Masse verfügt: sauberes Wasser. Die Regierung will aus Schmelzwasser Trinkwasser machen und weltweit verkaufen. Zeitgleich soll via Hydrothermie eine große Menge grüner Strom produziert werden, wodurch Grönland ähnlich wie etwa die zu Norwegen gehörende Inselkette Spitzbergen attraktiv als Standort für Rechenzentren werden könnte.
Nur mit Investitionen aus dem Ausland und einem engen Verbund mit Dänemark, ist sich Forscher Paul sicher, wird Grönland seine Unabhängigkeit meistern können. Der Klimawandel hilft dabei nicht nur wegen des einfacheren Zugangs zu Bodenschätzen und des freiwerdenden Wassers, sondern auch, weil er den Blick gen Grönland lenkt.
Der einstige Industrieminister Jens-Erik Kirkegaard sagte: „Der Klimawandel ist geradezu eine Gratiswerbung für uns. Es wird immer leichter, Kapital anzuwerben.“Nun liegt es in den kommenden Jahren an einem kleinen Volk mitten in der Arktis, im Poker um Macht, Ressourcen und Strategie die eigenen Interessen zu formulieren – und diese nach Jahrhunderten der Fremdbestimmung auch durchzusetzen.
RND
Der Artikel "Wo der Klimawandel eine Chance ist: Grönland zwischen Schmelze und Machtspielen" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.