Es sind alarmierende Zahlen, die der Vorsitzende des Agrarausschusses des ukrainischen Parlaments, Oleksandr Haydu, vorgestellt hat. Mehr als fünf Millionen Hektar landwirtschaftlicher Fläche seien bereits aufgrund von Minen, Verseuchung mit Sprengstoffüberresten oder andauernden Kämpfen unbrauchbar, erklärte Haydu. „Aufgrund von Minen oder gefährlichen Sprengkörpern auf landwirtschaftlichen Flächen ist es oft unmöglich, diese zu bestellen“, sagte er. Statt auf 7,7 Millionen Hektar wie im vergangenen Jahr habe man zuletzt nur auf 4,5 Millionen Hektar die Wintersaat ausbringen können.
Die Raketen, Marschflugkörper und Minen zerstören Gebäude und setzen Asbest frei. Werden Lagertanks für Schweröl, Raffinerien und Industrieanlagen getroffen, sickern Öl und Chemikalien in den Boden und können das Grundwasser kontaminieren. In der Munition stecken ebenfalls giftige Chemikalien, warnen Umweltexpertinnen und -experten wie Wim Zwijnenburg von der niederländischen Friedensforschungsorganisation Pax. „Wenn ein Gebiet über Monate jeden Tag beschossen wird, häufen sich Schwermetalle aus der verschossenen Munition im Boden an“, sagt Zwijnenburg im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Seit Jahren analysiert er Umweltschäden durch Kriege auf der ganzen Welt. Noch sei unklar, in welchem Umfang sich Giftstoffe an den einzelnen Orten der Front angereichert haben. „Ich gehe davon aus, dass es schwere Kontaminationen mit Schwermetallen, giftigen Rückständen aus Sprengstoffen und Minen in den besonders schwer umkämpften Gebieten gibt, wie Mariupol und Bachmut.“
Große Teile des umkämpften Gebietes in der Ukraine werden nach Einschätzung von Zwijnenburg in nächster Zeit nicht mehr für die Landwirtschaft genutzt werden können, weil sie mit Giftstoffen verseucht sind. Die Ukraine war bisher einer der weltgrößten Exporteure von Weizen und Mais und ein wichtiger Lieferant für Länder in Afrika und im Nahen Osten. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, dass es Jahrzehnte dauern wird, die Schäden an Europas Kornkammer zu beheben und dass die globale Lebensmittelversorgung jahrelang darunter leiden könnte.
Blei und Chemikalien großes Problem für die Böden
Die Verseuchung des Bodens mit krebserregenden Schwermetallen wie Blei und Cadmium haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereits in Charkiw nachgewiesen, so Reuters. Laut Experte Zwijnenburg sorgen Aluminium, Chrom, Wolfram, Zink und Blei neben Cadmium für die größte Kontaminierung des Bodens.
„Besonders problematisch ist das Blei, aber auch die in Sprengstoffen enthaltenen Chemikalien sind für die Böden ein großes Problem.“ Einige Sprengstoffe, darunter TNT, können zudem vom Wind weggetragen und verteilt werden, bei Regen gelangen sie in den Boden und werden von den Pflanzen aufgenommen. Die Folge: Die Fruchtbarkeit des Bodens nimmt rapide ab. „Wir haben seit dem Ersten Weltkrieg nie eine Verseuchung der Böden in so großem Ausmaß gesehen“, sagt Zwijnenburg.
Das ukrainische Landwirtschaftsmagazin „Latifundist“ hat mit Großbetrieben gesprochen, die mit vielen Tochterfirmen in mehreren Regionen der Ukraine ansässig sind. In den südlichen Regionen Cherson und Mykolajiw, wo viel Weizen, Mais, Sonnenblumen und Soja angebaut wird, sei es oft sehr schwierig, zu den Betrieben zu gelangen, weil Brücken und Straßen zerstört wurden, berichtet Igor Bohdanov von der AGR-Gruppe.
Es gebe nur unbefestigte Straßen und man benötige eine Erlaubnis des Militärs. Die Zerstörung sei enorm: „Vom Getreidespeicher sind nur ein paar Mauern übrig geblieben.“ Die meisten Geräte könnten nicht mehr repariert werden. Besonders schwierig sei das Thema Minenräumung. „In den Regionen Cherson und Mykolajiw ist der Arbeitsaufwand einfach kolossal.“ Es seien Spezialmaschinen nötig, die den Boden bis zu einer Tiefe von 30 Zentimeter von Minen befreien. Aber in der Ukraine gibt es laut Bohdanov nur wenige solcher Maschinen.
Verseuchung auf dem Niveau des Ersten Weltkriegs
„Es kommt immer wieder vor, dass Landwirte durch Minen oder nicht explodierten Sprengköpfen auf ihren Feldern getötet werden“, sagt Pax-Experte Zwijnenburg. Expertinnen und Experten müssten in den umkämpften Gebieten Bodenproben nehmen, um festzustellen, ob sich Schwermetalle oder andere Munitionsrückstände angesammelt haben. Da im Sommer bis zu 80.000 Schüsse am Tag allein von der russischen Armee abgegeben wurden, geht der Experte von beträchtlichen Munitionsrückständen aus. „Angesichts des exorbitant hohen Munitionsverbrauchs dürfte sich die Verseuchung auf dem Niveau des Ersten Weltkriegs bewegen.“
Im Ersten Weltkrieg gab es einige Schlachtfelder in Nordfrankreich, zum Beispiel im Raum Verdun, die so stark mit Schwermetallen verseucht wurden, dass sie bis heute nicht mehr landwirtschaftlich genutzt werden können. Da die Schwermetalle eine lange Zeit im Boden überdauern und das Grundwasser kontaminieren können, hält Zwijnenburg ein solches Szenario auch in den schwer umkämpften Gebieten der Ukraine für möglich.
„Die Menschen denken, sobald Frieden erreicht ist, wird die Ernährungskrise gelöst sein“, sagt Caitlin Welsh, Direktorin für globale Ernährungssicherheit am Center for Strategic and International Studies in Washington. „Doch in der Ukraine wird allein die Reparatur der Infrastruktur sehr lange dauern.“ Zwei Dutzend Expertinnen und Experten befürchten laut Reuters, dass es Jahrzehnte dauern wird, die Schäden an Europas Kornkammer zu beheben. Minen müssen entschärft, Infrastruktur repariert und verseuchter Boden gereinigt werden – die Lebensmittelversorgung könne jahrelang beeinträchtigt sein. Nach Angaben der ukrainischen Regierung befinden sich auf 26 Prozent des gesamten Landes Minen und Blindgänger, die entschärft werden müssen. Eine Arbeit, bei der sich Spezialistinnen und Spezialisten Meter für Meter vorarbeiten müssen.
Als einen weiteren Grund, warum die Folgen von Russlands brutalem Angriffskrieg auch Jahre später noch eine Herausforderung für die Ukraine sein werden, nennt Pax-Experte Zwijnenburg die Schwierigkeiten bei der Säuberung der Erdschichten. Oft lasse sich der Boden nicht ohne Weiteres von der Verseuchung säubern, erklärt er. In einigen Fällen könne man zwar die oberste Schicht abtragen und mit speziellen Filtern reinigen. „Wenn der Boden aber zu stark kontaminiert ist, kann man ihn einfach nicht mehr verwenden.“ Dann geht wertvoller Boden verloren.
Umweltminister Oleksandr Stavniychuk schätzt den Schaden durch Boden-, Wasser- und Luftverschmutzung inzwischen auf mehr als 50 Milliarden US-Dollar. Mehr als 2300 Umweltschäden habe man laut Stavniychuk dokumentiert. Ob Russland dafür jemals zur Verantwortung gezogen werden kann, ist unklar.
RND
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