Heute ist es soweit. Heute endet der deutsche Steinkohlenbergbau. Ein historischer Tag für Deutschland – für das Ruhrgebiet. Und nun? Zeit für Neues. Ein Essay.

von Benjamin Legrand

21.12.2018, 05:00 Uhr / Lesedauer: 5 min

Schicht im Schacht. Letzter Tag des deutschen Steinkohlenbergbaus. Letzter Tag des Bergbaus im Ruhrgebiet. Endlich.

Endlich, werden viele jetzt denken. Schließlich war das in den letzten Wochen wieder viel Kohle, Kumpel, Glückaufglückauf. Dabei spielt der Bergbau in den meisten Städten des Ruhrgebiets schon seit Jahrzehnten keine praktische Rolle mehr. Ganze Generationen schon nicht mehr. In Dortmund schloss die letzte Zeche vor 31 Jahren, in Castrop-Rauxel vor 35 Jahren, in Bochum sogar vor 50 Jahren. Bergbau ist hier nicht Vergangenheit. Er ist Vorvergangenheit. Außerdem: War ja nicht alles Gold, was Kohle war. Staub, Staublunge, Schmutz und langer Niedergang.

Was ändert sich im Ruhrgebiet?

Also, was ändert sich ab morgen, wenn im Ruhrgebiet dann wirklich keine Kohle mehr gefördert wird? Für die wenigen tausend Bergleute alles. Für den Rest natürlich nicht viel. Egal, ob man in Dortmund Computerchips produziert, in Bochum Cybersecurity studiert, in Duisburg den Containerzug nach China bestückt – oder ob man arbeitslos in Dortmund, Bochum, Duisburg oder sonstwo ist.






Ruhrgebiet erzählt zwei Geschichten

Das Ruhrgebiet kennt seit Jahren nur zwei Geschichten – und beide hängen den Ruhrgebietlern eigentlich zum Halse raus. Die eine ist die Erfolgsgeschichte des Strukturwandels. Die Leuchttürme in Vorzeigebranchen, in den Universitäten, die neuen Jobs. Diese Geschichte nervt, weil gleichzeitig das dumpfe Gefühl wabert, dass das Leben nicht so glänzend wie in Düsseldorf, Oberbayern oder Leipzig ist.

Die andere Geschichte ist das komplette Gegenteil: hohe Arbeitslosigkeit, Niedergang, sterbende Branchen, viele Asis. Auch das nervt, weil: So ist es hier doch nicht? Nicht überall!

Kohlenpott-Romantik oder Folklore-Kokolores?

Die gleiche Gefühls-Ambivalenz ist auch beim Bergbau-Ende zu sehen: Entweder die sentimentale, kitschige Kohlenpott-Romantik. Tränen am Förderturm. Oder aber das genervte Augenrollen: Muss dieser rückwärtsgewandte Folklore-Kokolores denn sein?

Beide Haltungen sind mittlerweile echte Ruhrpott-Klassiker. Folklore und Anti-Folklore sind nunmal Folklore. Auch wer sich über das Steigerlied ärgert, verbindet damit eine ganz bestimmte Ruhrgebietsgeschichte, die der ganz bewussten Abkehr vom Bergbau. Auch diese Geschichte ist mittlerweile 60 Jahre alt. In beiden Haltungen kann man sich gemütlich einrichten, nach vorne gehen beide aber nicht.

Zeche Prosper-Haniel in Bottrop: Hier endet die Geschichte des deutschen Steinkohlenbergbaus.

Zeche Prosper-Haniel in Bottrop: Hier endet die Geschichte des deutschen Steinkohlenbergbaus. © picture alliance/dpa

Und nu? Was machen wir damit? Ruhrgebiet, wo gehse? Oder: Ruhrgebiet, quo vadis? Je nach Bildungsgrad, Attitüde oder Soziotop.

Heute Borussia, morgen Konzerthaus

Vielleicht führt das ja eher zum Kern. Es gibt kein Entweder-oder. Hier gibt es stets beide Seiten der Medaille, enger verbunden als woanders. Unübersehbar, unausweichlich. Die Hartzer, die Reichen. Die Weltbürger, die Prolls. Die Realitäten des Lebens sind immer nah. Trotz hundsmiserabler Bus- und Bahnverbindung. Heute Borussia, morgen Konzerthaus. Heute Stille im Wald, morgen Trallafiti in der Stadt. Ist das schön? Nicht immer. Aber dafür ist hier der Irrsinn selbsternannter Weltmetropolen nicht so erdrückend, genauso wie der Irrsinn der Provinz.

Aus Industriegeschichte gemacht

Nicht Berlin, nicht Schwäbische Alb. Aber das sind auch nicht die richtigen Vergleiche. Jede Stadt – und Ausnahmen bilden da auch nicht mittelalterliche Hanse- oder Stiftstädte – jede Stadt im Ruhrgebiet ist gemacht aus der Industriegeschichte. Und deshalb lohnt der Vergleich mit anderen Industrieregionen in der Welt: Nordengland, Nordfrankreich, Detroit oder Belgien. Und erst dann sieht man, was sich hier in den letzten Jahren bewegt hat. Wahnsinnig viel.

Der Blick von außen ist schärfer als die Nahperspektive. Mit oder ohne Bergbau, das Ruhrgebiet ist für Schwaben, Pfälzer, Friesen, für Hamburger, Kölner und Berliner viel klarer definiert als für hiesige Westfalen oder Rheinländer, für Dorstener, Dortmunder oder Lüner. Im Guten wie im Schlechten. Das Ruhrgebiet als Scheinriese, der kleiner wird, je näher man kommt.

Fördergerüst und Kumpelmythos

Gibt es ein Ruhrgebiet? Und wenn ja, wieviele? Und überhaupt wozu? Die Debatte wird seit Jahrzehnten geführt und dann vor allem mit Symbolen. Das Fördergerüst ist das häufigste. Ob positiv oder negativ besetzt, das Ende des Bergbaus verändert auch den Symbolgehalt. Die Gerüste verweisen ab morgen nicht mehr auf Diskussionen über Erhalt von Arbeit, verlorene Jobs und Kumpelmythen. Es sind ab morgen wirklich für alle überall vergangene Zeiten. Wie die Pyramiden in Ägypten oder vielleicht auch die Windmühlen in Holland. Wer eine von ihnen sieht, denkt automatisch: Holland! Keiner denkt an die verlorenen Arbeitsplätze der Müller oder an Tote bei Sturmfluten. Deutsche assoziieren damit „Urlaub“. Andere erinnert es an das Know-How der Niederländer im Kampf gegen Wasser. Niemand würde aber in Windmühlen den Wunsch der Niederländer interpretieren, lieber wieder ins Goldene 17. Jahrhundert zurückzukehren. Es sind neue Assoziationen, neue Geschichten entstanden, die sich entwickelt haben, nachdem die Windmühlen ihre Aufgabe erledigt haben. Diese Geschichten gilt es auch im Ruhrgebiet zu entwickeln – weiterzuentwickeln. Aber ein Symbol zu haben, Landmarken, an denen man weltweit erkannt wird, das ist schon mal ein Pfund – wie die Lederhose.







„Laptop und Lederhose“

Was sind sie stolz – zurecht – in Bayern auf ihren Slogan „Laptop und Lederhose“. Nicht mehr ganz taufrisch, aber er erklärt immer noch eine Erfolgsgeschichte. Moderne, Zukunft und Tradition, so konstruiert das auch immer sein mag. Nur „Laptop“ funktioniert halt nicht, den findet man auch in Toronto oder in Shanghai. Es braucht die Lederhose als Alleinstellungsmerkmal. Und trotzdem glaubt niemand daran, dass die Lederhosen-Fraktion wieder lieber im Kuhmist stehen würde als auf dem Oktoberfest. Bemerkenswert, dass viele glauben, dass sich Ruhrgebietler zurück auf den Pütt sehnen, nur weil sie ein Fördergerüst als Symbol der Heimat erkennen.

Respekt für Bergleute

Wenn man das klar sieht, kann man an einem Tag wie heute auch unbesorgt innehalten: An einem Tag, an dem deutsche Wirtschaftsgeschichte geschrieben wird. Man kann Respekt zollen den Bergleuten der Gegenwart und der Vergangenheit. Respekt für eine harte, gefährliche Arbeit an einem Arbeitsplatz tief in der Erde, der für die jungen und auch schon mittelalten Generationen im Ruhrgebiet exotisch und fremd ist, weil er so weit weg ist – und nicht nur vertikale 1000 Meter.

Kohle und Knappen sind Sinnbilder der Ruhrgebiets-Tradition.

Kohle und Knappen sind Sinnbilder der Ruhrgebiets-Tradition. © dpa

Ab morgen, wenn dann nicht mehr Menschen und ihre Jobs daran hängen, kann man unbefangener über die Erinnerungen an den Bergbau diskutieren. Über die Denkmäler und die Industriekultur. Über die Bedeutung der Industrialisierung für Gesellschaft, Kapitalismus, Wohlstand, Kriege, ja für die Weltgeschichte. Ein seit Jahrzehnten dahinrostendes Fördergerüst ist ein Symbol. Aber für was? Welche Geschichte verbindet man damit, welche Werte? Ist es Sehenswürdigkeit oder Altmetall? Wollen wir es behalten und wer soll dafür bezahlen? Das Ende des Bergbaus wird auch diese Diskussion verändern.

Wer definiert das Ruhrgebiet?

Wenn die Kohle geht, was bleibt als Klammer? Wer definiert das Ruhrgebiet? Die Landschaftsverbände halbieren es in Westfalen und Rheinland. Die Kirchen in ihre Bistümer und Landeskirchen. Ganze drei Bezirksregierungen regieren mit. Der VRR fährt nicht in den Kreis Unna, dafür aber nach Krefeld. Die einzige politische Klammer ist der Regionalverband Ruhr (RVR), der mit Xanten und Alpen auch etwas weniger urbane Gegenden umfasst. Und er umfasst Teile, die sich selbst nicht als Ruhrgebiet betrachten. Haltern oder Werne sehen sich als Münsterland. Und selbst die Großen sehen sich oft lieber als Könige ihres Niederrheins oder ihres Westfalens.

Bürger haben die Wahl

2020 dürfen alle Ruhrgebietler das Ruhrparlament erstmals direkt wählen. Bitte was? Ja, dann dürfen die Wähler bei der Kommunalwahl auch einen weiteren Stimmzettel für die Verbandsversammlung des RVR ankreuzen, in der bislang Vertreter der Stadträte sitzen.

Essenziell für eine Wahl ist es, eine Wahl zu haben. Aktuell regiert im Ruhrparlament eine ganz große Koalition aus SPD, CDU und Grünen. Im Kommunalrat, der zentralen Runde der Oberbürgermeister und Landräte, arbeitet eine junge Generation ehrgeiziger OBs zusammen. Über Parteigrenzen hinweg, pragmatisch. Das ist gut und ein Fortschritt wider das berühmte Kirchturmdenken. Allesamt bestimmt der Konsens. Es wird spannend zu sehen sein, wie die Parteien daraus erkennbare Positionen für den Wahlkampf ziehen werden.

Arbeitslosigkeit, Altschulden und Verkehr

Themen und Probleme gibt es ja genug. Arbeitslosigkeit, soziale Not, auch Integrationsprobleme gerade im nördlichen Ruhrgebiet. Es geht um Bildung und auch um den Abbau der Altschulden der Kommunen. Nicht zu vergessen, die Verkehrsprobleme – egal ob auf Straße oder Schiene. Ob Staus oder fehlende Bus-und-Bahn-Verbindungen.

Was hat das Ende des Bergbaus damit zu tun? Nichts. Diese wirklichen Hauptprobleme bleiben. Auch die Kernfrage bleibt unverändert: Wo können die Städte zusammen mehr erreichen als alleine? Und wo auch nicht?

Wer neue Geschichten finden will, muss nicht lange suchen: Der Phoenixsee in Dortmund-Hörde.

Wer neue Geschichten finden will, muss nicht lange suchen: Der Phoenixsee in Dortmund-Hörde. © Stephan Schütze

Das Paradebeispiel einer gemeinsamen Ruhrgebiets-Aufgabe – mit konkretem Ziel und zu komplex für eine Stadt – wird ebenfalls in den kommenden Jahren vollendet: nach 30 Jahren Projektzeit. Der Emscherumbau ist so eine Erfolgsgeschichte. Aber auch ein Beispiel für ein Projekt in der Region, das weltweit mehr Anerkennung findet als vor Ort, wo es viele nach 30 Jahren gleichgültig zur Kenntnis nehmen.

Neue Geschichten im Ruhrgebiet

Dabei sind es genau die Dinge, mit denen man eine neue Geschichte prägen kann. Der Bergbau und seine Bedeutung für Deutschland und Europa, für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Stärke seit 150 Jahren sind nicht zu nehmen, genauso wie auch die Überwindung des Bergbaus in den vergangenen 60 Jahren mit den Hochschulen, den Technologieparks und neuen Branchen. Nach dem Zeitalter der Kohle endet heute auch das Zeitalter der Überwindung der Kohle. Es ist ein Abschied vom Abschied. Ab morgen beginnt dann in allen Köpfen ein neues Kapitel.

Der Bergbau ist Geschichte. Eine spannende Geschichte. Unsere Geschichte. Aber: Er ist Geschichte.