Lenn und Lara Graß hatten vor zweieinhalb Jahren keinen leichten, aber einen sehr frühen Start ins Leben. Nachdem sie im März 2020 schon einmal Blutungen hatte, bekommt ihre Mutter Vanessa Graß Anfang Mai 2020 Wehen. Anfang der 22. Schwangerschaftswoche, fast vier Monate zu früh. Sie kommt in Lüdenscheid ins Krankenhaus. Der Liebe wegen war sie von Marl ins Sauerland gezogen. „Die Ärzte sagten mir damals, sie dürften mir keine Wehenhemmer geben, um die Kinder zu retten. Das sei erst ab 23. Woche erlaubt“, erinnert sich Vanessa Graß (36). In ihrem Kopf läuft der Film wieder und wieder ab.
Sie bangt um das Leben ihrer Kinder im Bauch, die Wehen ziehen sich über mehrere Tage. Schließlich wird sie freitags in den Kreißsaal gebracht, ihr damaliger Ehemann wird gebeten zu kommen, um sich von den Kindern zu verabschieden. „Aber es passierte nichts“, so Vanessa Graß. Am nächsten Tag nimmt der Chefarzt der Klinik dann Kontakt mit einem Chefarzt in der Uniklinik Köln auf. Per Hubschrauber wird Vanessa Graß verlegt. Weil sie einen Tag später die 23. Woche erreichen würde, lassen die Ärzte sie nun nach reiflicher Aufklärung über mögliche Folgen entscheiden, wie es weitergeht. „Ich habe gedacht, die Kinder haben ein Recht auf Leben. Das habe ich dann allein entschieden. Ohne den Vater“, erzählt Vanessa Graß.

Die Ärzte holen die Kinder einen Tag nach der Ankunft in Köln, am 10. Mai 2020, per Kaiserschnitt. Weil Lenn schon zu tief in den Geburtskanal gerutscht ist, müssen sie ihn herausziehen. Dabei bekommt er Hirnblutungen. Dass er dadurch für immer schwer behindert sein würde, ist Vanessa Graß am Tag der Geburt nicht klar. „Das habe ich erst viel später gesagt bekommen. Man wollte mich schützen, damit ich für die Kinder stark sein konnte“, so Vanessa Graß.
Schuldgefühle nach der Geburt
Lenn ist 510 Gramm schwer und 27 Zentimeter groß, Lara wiegt 480 Gramm und ist 28 Zentimeter groß. Beide kommen sofort auf die Intensivstation, überstehen die ersten fünf kritischen Tage. Vanessa Graß macht sich schwere Vorwürfe, kann die Kinder kaum besuchen. Nach den Blutungen im März sollte sie Bettruhe einhalten. „Ich habe mich immer wieder gefragt, ob ich zu viel gelaufen bin. Ich bin nicht rausgegangen, aber in der Wohnung bin ich natürlich gelaufen. Ich habe nur geweint“, erinnert sie sich. Der Vater der Kinder wird nur zweimal ins Krankenhaus kommen, um die Babys zu sehen. Vanessa Graß kämpft alleine.
Sie kann die Kinder nicht berühren, hat richtige Ängste. Das schlechte Gewissen erdrückt sie. Erst als eine Krankenschwester sie bittet, sich hinzusetzen und sich die Brust freizumachen, ändert sich alles. „Sie hat mir Lenn auf die Brust gelegt, und da brach das Eis“, beschreibt sie. Sie wird stabiler, genießt wie die Zwillinge die Nähe. Jedes Kind darf und muss fortan mindestens vier bis sechs Stunden pro Tag auf ihrer Brust liegen.
Jeden Tage neue Hiobsbotschaften
Mit Muttermilch werden die beiden per Sonde ernährt, bekommen alle möglichen Medikamente. „Und dann kamen jeden Tag neue Hiobsbotschaften“, erinnert sich die Mutter. Lara muss am 15. Tag das erste Mal operiert werden. Ein Pilz hat sich im Bauchraum ausgebreitet. Anfang Juni folgt die zweite OP, der Pilz ist hartnäckig.
Vom 97. auf den 98. Tag dürfen die Kinder die Intensivstation verlassen - allerdings beide mit einem Sauerstoffgerät. Ende August wiegen die beiden nun jeweils ca. 1200 Gramm. „Wir haben das Mehltütenfest gefeiert“, erzählt Vanessa Graß. Erst zu diesem Zeitpunkt liest sie im Entlassbericht für die neue Station, wie schlecht Lenns Gesundheitszustand ist und bei der Geburt war: Überlebenschance 5 Prozent, 100 Prozent Schwerbehinderung. „Ich habe die Ärzte zur Rede gestellt, so klar hat mir das nie jemand erzählt. Mir wurde dann gesagt, dass ich das nicht verkraftet hätte und doch für Kinder da sein musste“, sagt sie resigniert.

Neun Wochen später können sie die Uniklinik nach 166 Kliniktagen, 24 Wochen - also fünfeinhalb Monaten - am 22. Oktober 2020 verlassen. Mit Sauerstoffgerät und Heimmonitor im Gepäck. Die Drei ziehen nach Marl, hier ist Vanessa Graß aufgewachsen. Hier leben Familie und Freunde. Heute sind Lenn und Lara zweieinhalb Jahre alt und in Hüls-Süd zuhause. Von hier aus geht es an fast jedem Wochentag zu Therapien oder der Frühforderung.

Lenn ist stark schwerhörig und sieht wenig. Seine Beine kann er bewegen, aber er läuft damit nicht. „Ob er es je können wird, weiß ich nicht. Momentan sieht es für mich nicht danach aus. Die Ärzte sagen es noch nicht so klar“, sagt Vanessa Graß. Diagnostiziert ist aber eine Autismus-Spektrums-Störung. „Lenn ist anders, das merkt man sofort. Er interagiert nicht“, erzählt die Mutter. Den Mittagsschlaf macht er im Wohnzimmer in der Wippe neben ihr. „Alleine schläft er nie. Nachts muss ich mich zu ihm ins Therapiebett legen“, so Vanessa Graß. Er spricht nicht und mag nur Brei, den Kinder im fünften Monat bekommen. Heute wiegt er 9,2 Kilo und ist 81 Zentimeter groß. „Er ist stark untergewichtig“, hält die Mutter fest.
Lara braucht einen Rollator
Lara geht es ganz anders als ihrem Bruder. Sie hat Entwicklungsverzögerungen, aber bekommt alles mit und spricht auch. Motorisch ist sie allerdings auf dem Stand eines anderthalbjährigen Mädchens. Sie fängt gerade an zu laufen. Weil sie Knicksenkfüße hat, ihre Muskeln schwach sind und wie Gummi nachgeben, wird sie nun Orthesen bekommen, die sie beim Laufen stabilisieren sollen. Gehen soll sie an einem kleinen Rollator. Lara spielt gerne - und das vor allem mit anderen Kindern. Vanessa Graß hofft, dass sie für August einen Kindergartenplatz für die Zwillinge - vor allem aber für Lara - bekommt.
Das alte Auto gibt den Geist auf
Den Alltag bestreitet Vanessa Graß mit Hilfe ihrer Familie weitestgehend allein. Zweimal pro Woche bezahlt sie vom Verhinderungspflegegeld eine Hilfe, die ein paar Stunden bei Lenn und Lara ist. „Ich kaufe dann ein, erledige meine Termine oder gehe auch mal mit einer Freundin einen Kaffee trinken“, schildert die 36-Jährige. Aktuell belastet sie ein großes Problem: Ihr altes Auto gibt den Geist auf, sie braucht ein neues. Und zwar am besten einen Kastenwagen mit geräumigem Kofferraum. „Lenns neuer Therapiebuggy passt aufrecht nicht in einen normalen Kofferraum, lässt sich aber auch nicht zusammenklappen.“ Die Krankenkasse sieht keine Notwendigkeit die Mutter bei der Anschaffung eines passenden Autos zu unterstützen. „Zu den Therapien kämen wir ja per Taxischein“, so Vanessa Graß.

Aber da sind noch viele andere Fahrten, die sie mit den beiden macht, die davon nicht abgedeckt werden. Vanessa Graß möchte sich spontan ins Auto setzen können und zum Arzt fahren können, wenn sie das Gefühl hat, dass irgendetwas mit den Kindern nicht stimmt. „Ich bin da einfach sehr vorsichtig bei der Vorgeschichte.“ Sie möchte zu Treffen der Krabbelgruppe fahren, etwas mit den Zwillingen unternehmen, ja sogar in den Urlaub fahren. Ihr Einkommen bezieht Vanessa Graß aktuell vom Jobcenter, zuhause wird sie 24 Stunden lang sieben Tage pro Woche für die Pflege gebraucht. „Ich würde so gerne wieder als Altenpflegerin arbeiten, mir fehlt das total. Sobald die Kinder im Kindergarten sind, kann ich mir das stundenweise gut vorstellen. Ich brauche auch für mich etwas anderes“, meint Vanessa Graß.
Herzenswunsch: Großer und hoher Kofferraum
Um einen Kastenwagen - idealerweise einen VW Caddy - , der schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat, aber noch gut ist, werde sie zwischen 16.000 und 17.000 Euro aufbringen müssen, meint sie. Dort gehe der besondere Buggy problemlos rein, später auch ein Rollstuhl. Bei Facebook hat sie ihr Schicksal kurz dargestellt, in Marler Gruppen veröffentlicht und bittet über die Plattform www.gofundme.com (bei Suche Lenn und Lara eingeben) um Spenden. Vanessa Graß: „Ich habe bisher nicht um Hilfe gebeten, da die Krankenkasse wirklich alles für uns tut. Aber jetzt weiß ich mir einfach keinen anderen Rat.“

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