Sorgen die Diskussionen über „Political Correctness“ dafür, dass die Freiheit der Wissenschaft gefährdet ist? Dass vielfach nur noch in einem ideologisch eng abgesteckten Rahmen geforscht und gelehrt wird? Dr. Sandra Kostner ist davon überzeugt.
Die 49-Jährige ist Geschäftsführerin des Masterstudiengangs „Interkulturalität und Integration“ an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. 2021 gründete sie das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“. Diesem Verein gehören inzwischen mehr als 700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Deutschland an.
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Das heißt allerdings nicht, dass das Netzwerk für die gesamte Wissenschaft spricht. Es gibt auch kritische Stimmen.
Sie werfen dem Netzwerk etwa vor, vorzugeben, die Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen, tatsächlich aber selbst konservative politische Ziele zu verfolgen. Andere halten dem Netzwerk eine „unangemessene Dramatisierung“ vor.
Bedroht sei die Wissenschaftsfreiheit in anderen Ländern wie Polen und Ungarn, nicht in Deutschland. Wir haben mit Dr. Sandra Kostner gesprochen.
Frau Dr. Kostner, Sie haben 2021 das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gegründet und sind Vorsitzende des Vereins. Was war der Anlass?
Es gab eine Reihe von Anlässen. Ich habe in Australien promoviert. Die australischen Universitäten orientieren sich stark an den USA und Großbritannien, allen voran den dortigen Eliteuniversitäten. Was dort an Trends entsteht, wird umgehend übernommen.
Ab den frühen 2010er-Jahren habe ich das auch in Bezug auf die Freiheit von Forschung und Lehre beobachtet. Ergebnisoffenes Erkenntnisstreben wurde einer identitätspolitischen Moral unterworfen.
Mir war klar, dass diese Trends irgendwann auch nach Deutschland kommen, wenn auch abgeschwächt. Im angelsächsischen Raum gab es von Anfang an eine relativ starke Gegenwehr, aber im deutschsprachigen Raum war das nicht erkennbar. Und dann sind die ersten Fälle in Deutschland bekannt geworden.
Sie waren selbst davon betroffen, richtig?
Genau. Zu Beginn des Wintersemesters 2017/2018 hatte ich im Rahmen einer Ringvorlesung einen Redner eingeladen: Hamed Abdel-Samad zum Thema Freiheit und Selbstbestimmung im Islam.
An einer Stelle sagte er, wenn eine erwachsene Frau freiwillig ein Kopftuch trage, müsse man das akzeptieren, aber aus Gründen der Neutralität fände er das bei Lehrerinnen nicht akzeptabel. Daraufhin ist eine Kopftuch tragende Studentin unter Protest gegangen.
Vier Wochen später kam sie zu mir in die Sprechstunde, um mir zu sagen, dass sie Strafanzeige wegen Volksverhetzung gegen den Referenten gestellt habe. Sie hätte erst gegen mich vorgehen wollen oder gegen die Hochschule, aber da habe die Polizei gesagt, das ginge nicht. Sie hat mehrfach betont, explizites Ziel dieser Strafanzeige sei es, dass niemand mehr in die Hochschule eingeladen werde, der etwas Kritisches zum Kopftuch sage, denn sie habe ein Recht auf ein diskriminierungsfreies Studium.
Und das war der Auslöser für Sie, aktiv zu werden?
Das war ein wichtiger Impuls. Hinzu kam, dass in Deutschland zunehmend Fälle bekannt wurden, wie die Forderung, die Ethnologin Susanne Schröter zu kündigen, weil sie Rednerin zu einer Konferenz eingeladen hatte, die das Kopftuch kritisch sahen.
Im Frühsommer 2019 habe ich den ersten Wissenschaftler angefragt, mit der Idee, aktiv zu werden, bevor wir US-amerikanische Verhältnisse bekommen. Ich habe dann mehrere Artikel dazu publiziert und sehr viel Resonanz von Wissenschaftlern erhalten. Aber die meisten haben geschrieben: „Ja, ich teile Ihre Ansicht vollkommen und ich habe auch schon negative Erfahrungen gemacht, aber bitte behandeln Sie, was ich Ihnen geschildert habe, vertraulich“.
Wer übt da eigentlich auf wen Druck aus?
Es gibt einen Wissenschaftlertypus, den ich mal als Agenda-Wissenschaftler bezeichnet habe, weil für diesen Typus Forschung und Lehre zuvorderst dazu dienen, ihre persönliche gesellschaftspolitische Agenda zu verwirklichen.
Sie sind nicht offen für das, was zum Kern der Wissenschaft gehört: das Überprüfen und Diskutieren von Ergebnissen, weil das ihre Weltanschauung, die sie verwirklichen möchten, infrage stellen könnte.
Wie gehen „Agenda-Wissenschaftler“ vor?
Sie verengen den Raum dessen, was man an Hochschulen forschen und sagen kann. Vor allem dadurch, dass sie Forschung stark moralisiert haben und durch diese Moralisierungen Menschen sehr schnell mit Etiketten belegt werden.
Also Etiketten wie „Rassist“ oder „Klimaleugner“, „das ist rassistisch“, „das ist sexistisch“, „das ist transphob“ oder auch „umstritten“ – das ist inzwischen fast der wichtigste Begriff, mit dem man Unliebsames markiert.
Warum ist der Widerstand gegen diese Einengung nicht größer?
Mein Eindruck ist, dass es vor allem drei Gründen sind, die Wissenschaftler davon abhalten, sich gegen freiheitsfeindliche Bestrebungen zur Wehr zu setzen: erstens ist man selbst – noch – nicht betroffen. Zweitens die Sorge selbst zur Zielscheibe moralischer Abwertungen und sozialer Ausgrenzung zu werden. Und drittens der Umstand, dass viele befristet beschäftigt sind.
Aber die unbefristet Beschäftigten sind nicht das größte Problem?
Nein. Über 80 Prozent der Wissenschaftler in Deutschland haben befristete Beschäftigungsverhältnisse. Um weiterbeschäftigt zu werden oder um eine Chance auf eine Professur zu haben, muss man viel publizieren und möglichst hohe Drittmittel einwerben.
Über die Annahme von Texten für Publikationen und die Vergabe von Drittmitteln entscheiden Gutachter. In Fachrichtungen, in denen es viele Agendawissenschaftler gibt, kann man davon ausgehen, dass diese auch unter den Gutachtern stark vertreten sind.
Wer darauf angewiesen ist, viele Publikationen unterzubringen und Forschungsgelder einzuwerben, wird davon Abstand nehmen, Forschungsfragen zu stellen, die den Gutachtern aus ideologischen Gründen missfallen. Und wenn jemand weiß, dass seine Stellenfinanzierung davon abhängt, dass er diese Drittmittel einwirbt, wird dies erst recht nicht tun.
Das Ganze scheint mir eine relativ neue Entwicklung zu sein. Wie konnte es dazu kommen?
Die Entwicklung steht eng mit der in den späten 1960er-Jahren in den USA entstandenen Identitätspolitik in Zusammenhang. Es war der damals begonnene „Marsch durch die Institutionen“, der über die Jahrzehnte immer mehr identitätspolitisches Gedankengut an die Unis brachte.
Deutsche Wissenschaftler haben dieses Gedankengut übernommen und es hat sich mit jeder neuen Wissenschaftlergeneration mehr verbreitet. Betroffen sind vor allem die Fachbereiche, die mit identitätspolitischen Fragestellungen in Verbindung stehen, also Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Hochschulen und Fachbereiche sind sehr unterschiedlich betroffen, bei manchen spielt es bis heute fast keine Rolle, bei anderen ist es allgegenwärtig.
Liege ich falsch mit meinem Eindruck, dass die große Mehrheit nicht aus Überzeugung mitmacht, sondern nur aus Angst, persönliche Nachteile einzukaufen?
In den meisten Fällen sind es tatsächlich relativ kleine Gruppen, die jedoch recht erfolgreich dabei sind, auf andere Druck auszuüben. Menschen sind soziale Wesen, sie reagieren auf moralische Abwertungen und soziale Ausgrenzung.
Indem sie Menschen stigmatisieren und ausgrenzen, setzen sie den Preis, den jemand für die Formulierung einer vom eigenen Standpunkt abweichenden Forschungsfrage oder eines Arguments zahlen muss. Jeder Mensch überlegt sich ab einem gewissen Punkt: Wird mir der Preis für eine Meinungsäußerung oder das Verfolgen einer Forschungsfrage jetzt zu hoch?
Warum widersetzen sich zumindest die Festangestellten nicht stärker?
Vor allem deshalb, weil sie Angst vor Nachteilen haben. Das beginnt mit einer reichweitenstarken moralischen Diskreditierung, wie dies ja heute schnell über die sozialen Medien passiert.
Und dann im nächsten Schritt Angst davor haben, gemieden zu werden, weil man moralisch negativ markiert ist. Die Person wird nicht mehr eingeladen zu Tagungen, man publiziert nicht mehr ihr zusammen, fragt sie nicht mehr an, gemeinsam Forschungsanträge zu schreiben. Dadurch wird man auch sozial ausgegrenzt. Und das ist auch für viele, die in festen Beschäftigungsverhältnissen sind, menschlich schwer zu ertragen.
Wie gehen die Hochschulen mit Ihrem Netzwerk um? Oder umgekehrt, wie können Sie Betroffenen, die sich an Sie wenden, helfen?
Das hängt immer vom Fall ab. Wenn beispielsweise jemand einen Gastredner eingeladen hat und eine studentische Hochschulgruppe die Absage des Vortrags fordert, weil der Redner „umstritten“ sei, etwa weil sie ihm unterstellen, dass er sich transphob geäußert habe. Dafür reicht es heute ja schon, wenn ein Evolutionsbiologe sagt, dass es im biologischen Sinne nur zwei Geschlechter gebe.
Wir schreiben dann in der Regel an die Dekanate und machen sie darauf aufmerksam, dass es ihre Aufgabe ist, die Wissenschaftsfreiheit des Betroffenen zu verteidigen. Wenn das erfolglos bleibt, schreiben wir in der Regel an die Präsidien der Universitäten.
Mit welcher Reaktion?
Meistens bekommt man keine direkte Antwort von den Dekanaten oder Präsidien. Das heißt aber nicht, dass es nicht irgendwas intern in Gang setzt, weil das dann auch öffentlich wird. Und in dem Moment ist der Druck halt auch von der anderen Seite da. Bevor es uns gab, ist organisierter Druck immer nur von einer Seite gekommen, nämlich von denen, die etwas canceln wollten.
Was macht das mit der Forschung, was macht das mit unserem wissenschaftlichen Know-how, wenn bestimmte Fragestellungen und Themen ausgeklammert werden?
Es schadet dem Wissenschaftsbetrieb, aber letztlich auch der Gesellschaft, weil es kreativitäts- und innovationsfeindlich ist. Wer schon bei der Formulierung von Forschungsfragen anfängt, mit der Schere im Kopf zu arbeiten, trägt dazu bei, dass das, was die dominanten Kräfte als Gesetz des Wissens setzen, kaum infrage gestellt wird.
Das führt dazu, dass der Stand der Forschung in den betroffenen Fachbereichen immer stärker Ideologien widerspiegelt. Das führt zwangsläufig dazu, dass Forschungsstand und Realität auseinanderdriften.
Ein wichtiger Grund dafür, dass Agenda-Wissenschaftler oftmals aggressiv auf Forschung reagieren, die ihre Annahmen und Ergebnisse überprüfen, ist, dass sie empirisch nicht haltbar sind. Sie greifen dann zum Mittel der moralischen Diskreditierung, um Wissenschaftler von einer empirischen Überprüfung ihrer Argumente abzuhalten.
Zu oft tappt das Gegenüber dann in die „Diskreditierungsfalle“, das heißt, Menschen fühlen sich moralisch überwältigt und versuchen, ihre moralische Reputation wiederherzustellen, indem sie sich rechtfertigen oder erläutern, warum sie kein „Rassist“ oder „Transphober“ sind.
Für die Forschung ist das hochproblematisch, weil Forschung davon lebt, dass sie in Frage gestellt wird.
Aber das Problem ist nicht auf die Universitäten beschränkt?
Über die Absolventen ist die identitätspolitische Agenda nunmehr in weiten Teilen der Gesellschaft angekommen, vor allem in den Medien, in der Politik, aber auch in Institutionen.
Was müsste, was könnte in Deutschland geschehen, um diese Entwicklung zu stoppen?
Der erste Schritt ist immer, dass an den Hochschulen, bei Verlagen, Drittmittelgebern und der Wissenschaftspolitik ein Bewusstsein für freiheits- und wissenschaftsfeindliche Tendenzen vorhanden ist. Da über die Absolventen aber auch die Gesellschaft betroffen ist, ist es wichtig, dass dort ein Bewusstsein dafür entsteht, dass es für sie relevant ist, was an den Hochschulen passiert, weil es sie früher oder später ebenfalls betrifft.
Kritische Stimmen zum „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“
„Viele Wissenschaftler sehen das Netzwerk kritisch – und das aus gutem Grund“, sagt Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Niehr, Experte unserer Serie „Alles Sagen“. Das Netzwerk habe zwar knapp 800 Mitglieder, repräsentiere damit aber nur eine geringe Minderheit unter den Wissenschaftlern:. In Deutschland gibt es laut dem Statistischen Bundesamt allein rund 53.000 Professoren.
Wieso das Wirken des Netzwerks inhaltlich kritisch zu betrachten sei, erläutert Niehr am Beispiel eines bekannten Mitglieds: Der Dortmunder Statistikprofessor Walter Krämer äußere sich oft zu Fragen der deutschen Sprache. „Mit Sprachwissenschaft haben seine populistischen Äußerungen jedoch nichts zu tun; sie widersprechen häufig sogar sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen“, sagt Niehr. Etablierten Sprachwissenschaftlern, die nicht seiner Meinung sind, empfehle er öffentlich „den Gang zum Psychiater“. So etwas lasse sich „nur als ausgeprägte Wissenschaftsfeindlichkeit verstehen“.
Andere Netzwerk-Kritiker sagen, auch der im Interview angesprochene Fall von Susanne Schröter sei kein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit: Vor einer Veranstaltung 2019, bei der nach Ansicht von Kritikern Gäste einseitig ausgewählt worden seien, hatten Studenten den Rücktritt der Professorin gefordert. Zu einer Kündigung kam es aber nicht.
Während Sandra Kostner dies zum Anlass nahm, das Netzwerk zu gründen, sagen Netzwerk-Kritiker, die Debatte sei gerade ein Beleg dafür, dass in Deutschland über Positionen gestritten werden könne und es keine staatlichen Verbote gebe. Damit sei die Situation hierzulande viel besser als in vielen anderen Staaten.
Susanne Schröter war nicht zurückgetreten. Im Sommer hat sie ein Forschungsvorhaben über das Ende ihrer Dienstzeit hinaus bewilligt bekommen. sowi/mla
Haben Sie aufgrund Ihres Engagements für die Freiheit der Wissenschaften selbst Repressalien oder Konsequenzen erfahren?
Ich habe persönlich keine Repressalien erlebt. Ich weiß natürlich, dass es Personen gibt, die mein Engagement für die Wissenschaftsfreiheit als Angriff auf sich selbst sehen. Das liegt daran, dass Freiheit und Ideologie nicht vereinbar sind.
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