
Bei der Bahn nehmen wir inzwischen Verspätungen mit Fatalismus hin, wie wir schauderhaftes Regenwetter ertragen. Und wenn ein Zug doch einmal pünktlich ist, freuen wir uns wie ein Kind. Die Bahn zahlt eine dreistellige Millionensumme im Jahr an Entschädigungen aus. 2023 waren es 132,8 Millionen Euro bei 5,6 Millionen reklamierten Fahrten.
Anspruch auf Entschädigung haben aber nicht nur Bahnkunden, sondern auch, wer im Flugzeug reist. 2024 stand 2,4 Millionen deutschen Fluggästen Entschädigungen zu. Das hat „AirHelp“, ein Portal für Fluggastrechte, ermittelt. Von 107 Millionen Menschen, die von einem deutschen Flughafen abflogen, hätten 34 Prozent Annullierungen oder Verspätungen erlebt. Damit ist Deutschland nach Griechenland und Portugal das Land mit den drittmeisten Störungen in Europa. Peinlich.
Noch sind die Entschädigungs-Regeln verbraucherfreundlich. Aber das soll sich ändern. Die Europäische Union bastelt an einer Reform. Die möglichen Folgen beschreibt André Duderstaedt, Referent beim Bundesverband der Verbraucherzentrale in Berlin, so: „Im schlimmsten Fall wird jede Reise zu einem Glücksspiel, denn für die Airlines gäbe es nur noch wenig Grund, ihren Flugplan einzuhalten.“
Die bisherige Regelung sieht drei Entschädigungsstufen vor. Geld gibt es ab drei Stunden Verspätung: Bei einer Entfernung bis 1.500 Kilometern gibt es 250 Euro, bis 3.500 Kilometern 400 Euro und ab 3.500 Kilometern 600 Euro. Das ist klar und überschaubar.
Bis zu 70 Prozent der Fluggäste ohne Anspruch auf Entschädigung?
Was jetzt auf dem Tisch liegt, wäre dagegen eine Verschlechterung für Verbraucher. Eine Entschädigung von 250 Euro gäbe es für Flüge bis 3.500 Kilometer Entfernung erst ab fünf Stunden Verspätung. Bei einer Entfernung von 3.500 bis 6.000 Kilometern muss sich die Ankunft um mehr als neun Stunden verspäten, ehe es 400 Euro gibt. Und ist das Ziel weiter als 6.000 Kilometer entfernt, sollen Passagiere erst ab zwölf Stunden Verspätung entschädigt werden – mit 600 Euro.
Die Höhe der Zahlungen ist gleich geblieben, aber: Die Länge der zumutbaren Verspätungen würde drastisch steigen. Der ehemalige Vorstand der Verbraucherzentrale, Klaus Müller, rechnete bereits vor einigen Jahren vor, dass mit einer solchen Regelung künftig bis zu 70 Prozent der Fluggäste keinen Anspruch auf Entschädigung mehr hätten.
Die Reformpläne sind uralt. 2013 hat die EU-Kommission sie vorgelegt. Sie wurden immer mal wieder hervorgekramt und verstaubten danach wieder. Jetzt sollen sie umgesetzt werden.
Im Dezember diskutierten die EU-Verkehrsminister das Thema. Das bestätigte das Bundesverkehrsministerium auf Anfrage. Die Minister hätten „eine Orientierungsdebatte“ geführt, teilte ein Sprecher mit und verteidigte die Pläne: „Die Überarbeitung soll insbesondere gewährleisten, dass die Fluggastrechte-Verordnung klar und transparent die Rechte und Pflichten aller Beteiligten regelt, um Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie den Unternehmen die Anwendung dieser Rechtsvorschriften zu erleichtern.“
Dass die Pläne etwas klarer machen, bezweifle ich. Sicher ist: Kommt die Reform, wäre das gut für die Fluggesellschaften, aber schlecht für Fluggäste. Verbraucherschützer Duderstaedt: „Die Rechtsposition der Reisenden würde sich spürbar verschlechtern. Im schlimmsten Fall wird jede Reise zudem zu einem Glücksspiel, denn für die Airlines gäbe es nur noch wenig Grund, ihren Flugplan einzuhalten.“
Für Urlauber hieße das, dass es noch unsicherer werden könnte, ob sie zur geplanten Zeit am Ferienort eintreffen und pünktlich wieder zu Hause sind. Duderstaedt: „Eine Reise ist meist geplant. Die Airlines haben kein Recht, diese Planung über den Haufen zu werfen. Tun sie dies doch, dann sollen sie dafür zumindest geradestehen müssen.“
Noch ist die Reform nicht in Kraft. Derzeit suchen die EU-Verkehrsminister nach einer Lösung, der alle Länder zustimmen können. Danach müssen noch die Europäische Kommission und das Europaparlament zustimmen. Wie lange das dauert, ist offen. Duderstaedt: „Selbst wenn der Gesetzgebungsprozess auf europäischer Ebene bis Oktober abgeschlossen sein sollte, gelten üblicherweise noch zirka 18 bis 24 Monate Umsetzungsfrist. Dann gäbe es nur noch wenige Sommer mit dem Schutzniveau der bisherigen Fluggastrechte“.
„Freibrief für Unpünktlichkeit der Fluggesellschaften“
Man mag Flugreisen ablehnen, weil man sie für umweltschädlich hält. Das rechtfertigt aber nicht, den Flug-Konzernen einen Freibrief für Unpünktlichkeit auszustellen und Fluggäste zu bestrafen.
Geld ist genug da. Die Gewinne der Fluggesellschaften sind, seit Corona Geschichte ist, wieder kräftig gestiegen. In den ersten neun Monaten 2024 flog etwa die Lufthansa vor Steuern und Zinsen 1,177 Milliarden Euro Gewinn ein.
Das EU-Parlament könnte die Pläne stoppen. Wenn es sich auf die Seite der Verbraucher und nicht der Flugkonzerne schlägt, wäre das ein Beispiel, wie wichtig das Parlament für uns sein kann.