Thomas Reimann ist taff. Thomas Reimann ist aber auch empfindsam. Als Sozialpädagoge kennt er sich mit schwierigen Jugendlichen aus. Als Vater hat er mit viel Liebe und Fürsorge drei Kinder allein groß gezogen. Mit allen Höhen und Tiefen, die es dabei ja doch immer gibt.
Seit einem Jahr gibt es nur noch Tiefen, die nicht vergleichbar sind mit Sorgen oder Nöten, die sein Sohn Alexander und seine beiden Töchter Carmen und Katharina vielleicht früher einmal bei dem 62-Jährigen ausgelöst haben.
Diagnose Fatigue-Syndrom
Carmen ist krank. Die 25-Jährige ist sehr krank. Carmen Reimann lebt in einer Welt, in die sich niemand auch nur kurz hineinversetzen möchte. Es ist eine Welt der Finsternis, eine Welt wie in Watte. Es ist wie Gehirnnebel. Und es ist ein Leben in großer Isolation, es ist ein Leben mit großen Schmerzen. Carmen Reimann leidet an ME/CFS, am chronischen Fatigue-Syndrom.
Carmen Reimann war lebenslustig. Carmen Reimann war aber auch ehrgeizig. „Sie war eine ganz lebensfrohe, agile junge Frau“, erzählt ihr Vater am Küchentisch im heimischen Werne. Im Sommer 2022 machte seine Tochter erfolgreich ihren Bachelor in Kommunikations- und Grafikdesign. Sie schloss ein darauf aufbauendes Zweitstudium der Medienpädagogik an der Technischen Hochschule in Köln an. Sie hatte Träume, sie hatte Ziele. Seit März ruht das Studium.

Schon im Laufe des vergangenen Jahres setzte eine dramatische Entwicklung beim Gesundheitszustand von Carmen Reimann ein. Es ist nicht gut vorstellbar, dass er an einen noch tieferen Punkt gelangen könnte, als er heute ist.
„Im Grunde genommen kann sie nichts mehr machen, sie kann keine Geräusche ertragen, sie kann kein Licht ertragen“, sagt Thomas Reimann mit fester Stimme. „Das ist so ihre Situation“, ergänzt er nach kurzem Innehalten leise.
Während er diese Worte spricht, liegt seine kranke Tochter nebenan im Bett ihres abgedunkelten Schlafzimmers. Sie wäre bei dem Gespräch gern dabei gewesen. Sie fühlt sich dafür zu erschöpft. „Es kommen auch keine Freunde mehr“, bedauert Thomas Reimann. Selbst ihren Partner schickt Carmen Reimann weg. Die Liebe werde wohl sterben.
Charité will ME/CFS erforschen
Es ist eine soziale Isolation. „Wenn ich nicht wäre, würde sich niemand mehr an meine Tochter erinnern – das sind vergessene Kranke“, bricht sich bei Thomas Reimann zwischendurch Verzweiflung Bahn.
ME/CFS ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung. Es sei eine der letzten großen Krankheiten, die kaum erforscht ist, sagt die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS. Es gibt daher immer noch kein passendes Medikament. Obwohl ME/CFS schon seit 1969 von der WHO als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt ist.
Der Forschung in Deutschland wird seit Jahren von der Politik kein Geld bewilligt. Einmal war es fast so weit, dann kam der Rückzieher. Vielleicht steht es im Haushalt 2024, vielleicht nicht. „Es gibt keine Perspektive“, sagt Thomas Reimann.
Dabei seien Ärzte der Charité in Berlin zuversichtlich, ein Medikament entwickeln zu können, wenn nur Forschungsgelder bewilligt würden.

Er und seine jüngere Tochter Katharina können es nur vermuten, entweder war eine Corona-Infektion die Ursache oder Pfeiffersches Drüsenfieber ein Jahr zuvor, das Carmen Reimann ebenfalls durchgemacht hat.
Seit ihrer Covid-19-Erkrankung im März 2022 jedenfalls kränkelte sie nur noch, hatte ständig Fieber, Gliederschmerzen, wurde sogar schon mal unvermittelt ohnmächtig. Ärzte waren ratlos. Kliniken schickten sie nach Hause. Carmen Reimann weinte im Wartezimmer, weil ihr dort Unverständnis entgegenschlug, wo sie sich Hilfe erhoffte.
Aufenthalt in der Psychiatrie
„Sie haben es auf die psychosomatische Schiene geschoben“, erinnert sich Carmens Schwester Katharina. Die angehende Biologin beschäftigt sich seit Monaten intensiv mit der Krankheit, den Ursachen, den Symptomen und einer möglichen Heilung.
„Carmen hatte enormen Stress“, denkt Thomas Reimann an das vergangene Jahr zurück. Da war die Bachelor-Arbeit, sie musste dreimal umziehen, hatte Zank mit ihrem Freund. „Ihre Katze ist gestorben“, zählt Thomas Reimann auf.
Der Hausarzt empfahl einen Aufenthalt in der Psychiatrie in Münster. Psychisch war Carmen Reimann gesund. Die Psychiater entließen sie und vermuteten etwas anderes: Myalgische Enzephalomyelitis (ME). „Da haben wir zum ersten Mal etwas von ME/CFS gehört“, weiß Thomas Reimann noch.

In einem Ausschlussverfahren kam ein Arzt schließlich zu derselben Diagnose. Es war Gewissheit und bittere Wahrheit zugleich. Beim Fatigue-Syndrom (französisch für Ermüdung) verstärken sich die Symptome bei jeder auch nur geringen körperlichen oder geistigen Anstrengung: Herzrasen, Schwindel, Benommenheit, Muskel- und Gelenkschmerzen.
Carmen Reimann erleidet in einem solchen Moment einen sogenannten Crash. „Carmen muss sich vor jedem Arztbesuch klar sein, dass sie diese Bewegung zurückwirft“, sagt ihre Schwester.
Pflegedienste und Krankenkasse überfordert
Auf Hilflosigkeit stieß Thomas Reimann, selbst angestellt beim Kreis Unna, auch beim Medizinischen Dienst und bei ambulanten Pflegediensten. Dem Vater, der seine Tochter mittlerweile Tag und Nacht selbst pflegt, lehnte die Krankenkasse zunächst einen Pflegegrad für Carmen Reimann und Pflegegeld ab. „Das passte dort nicht ins Raster.“ Erst mit der Diagnose ME/CFS bewilligte die Kasse sofort eine hohe Pflegestufe.
Pflegedienste wiederum lehnen Besuche bei Reimanns ab: Sie hätten stringente Zeitpläne, könnten sich nicht nach Carmen Reimann richten. Der Tages- und Nacht-Rhythmus ist bei der 25-Jährigen aber völlig verquer. Sie wacht in tiefer Nacht, schläft daher oft bis mittags. Würde sie morgens vom Pflegedienst geweckt und versorgt, müsste sie jedes Mal einen irreversiblen Crash erdulden.
Reimanns haben viele Tiefschläge in dem Dauertief erlebt. „Viele Ärzte nutzen Hoffnungslosigkeit aus“, ärgert sich Katharina Reimann. Eine Blutwäsche für viele Tausend Euro könne helfen – aber ohne Garantie.
Seit einiger Zeit behilft sich die Familie mit einem Off-label-Medikament: Die Arznei ist für die Heilung einer anderen Krankheit zugelassen, kann Symptome bei Carmen Reimann aber abmildern. Erst in Göttingen fand Thomas Reimann eine Apotheke, die dieses Medikament vertreibt, das er auf eigene Kosten bestellt.
„Knallharte Forderung“ an die Politik
Die Medizin lindert etwas, aber kuriert nicht. Der Vater klammert sich an die kleine Hoffnung, dass die Krankheit wieder verschwindet, bei fünf bis zehn Prozent der Patienten könne das passieren.
Carmen Reimann postet hin und wieder bei Instagram. Sie möchte, dass ME/CFS bekannter wird, dass endlich nach einem Medikament geforscht wird. Und sie drückt ihre fast unerträgliche Ungewissheit aus. „Heute werde ich 25 und frage mich, ob ich das Meer jemals wiedersehen werde“, schreibt sie einmal.
Sie tauscht sich hoffnungsvoll aber auch in WhatsApp-Gruppen mit anderen Betroffenen aus. Ihre Schwester weiß daher, dass die ME/CFS-Erkrankten die Pacing-Therapie anwenden. Katharina Reimann beschreibt das Konzept mit einem Bild: „Man hat nur einen Teelöffel Energie für den Tag zur Verfügung – den muss man sich einteilen.“
Thomas Reimann würde alles dafür tun, die Krankheit seiner Tochter zu heilen. Inzwischen ist er selbst krank. Schiebt selbst zwei nötige Operationen auf. Er habe früher geglaubt, dass seine Kinder einmal ihn pflegen müssten und nicht er eine seiner Töchter. „Das ist schwer zu akzeptieren.“
Thomas Reimann erfüllt grenzenloses Mitgefühl für seine Tochter Carmen. Es gehe ihm aber nicht um Mitleid, er habe knallharte Forderungen, dass ME/CFS endlich erforscht werde. Und diese Hoffnung, die gibt er nicht auf.