Nein, es geht nicht mehr. Ach, wie gerne würde Edith Lehnebach am Morgen die aktuelle „Marler Zeitung“ aus dem Postkasten holen und zum Frühstück lesen, doch sie muss warten, bis im Lauf des Tages die Tochter kommt. In dem achtstöckigen Haus Pommernstraße 3 in Drewer ist seit dem 3. Januar der Fahrstuhl defekt. Das Treppenhaus mit Dutzenden Stufen ist für die 89-jährige Seniorin zu einer unüberwindlichen Hürde geworden. Ein Ende der Misere ist nicht in Sicht. „Ohne meine Tochter würde ich hier verhungern“, sagt Edith Lehnebach mit einer Mischung aus Ernst und Galgenhumor. Ihre Wut auf den Vermieter, den Immobilienkonzern Grand City Property (GCP) ist groß.
Mit einem schweren Rucksack voller Lebensmittel keucht Tochter Monika Tack das Treppenhaus hinauf. Die Mutter wohnt im 7. Stock. „Mit Einkaufstüten schaffe ich das nicht mehr“, sagt die 68-jährige Marlerin: „Ich habe Angst, dass mir beim Aufstieg schwindelig wird, da brauche ich zwei freie Hände.“ Die langjährige Kindergartenleiterin ist jetzt in Rente, hat Zeit für ihre Mutter. „Bei schweren, sperrigen Sachen hilft mein Sohn“, sagt sie: „Der schleppt dann den Kartoffelsack rauf.“

„Die wollen uns hier dumm sterben lassen“
Wirklich Sorgen machen muss sich Edith Lehnebach also nicht. Was sie ärgert: „Die wollen uns hier dumm sterben lassen“, wettert sie - und meint den Vermieter, der die Anwohner des Hauses seit Monaten im Unklaren darüber lässt, wann der Fahrstuhl wieder nutzbar ist. Monika Tack hat bei Servicebüro der GCP nachgefragt. Das liegt gleich um die Ecke: „Erst hieß es, der Fahrstuhl werde bis Ende Januar repariert, jetzt soll bis Ende Mai ein neuer Lift eingebaut werden“, sagt Monika Tack: „Wenn noch Teile fehlen, könnte es aber noch länger dauern.“ Sie hat auch zum GCP-Firmensitz nach Berlin geschrieben, als Einschreiben mit Rückschein. Eine Antwort hat sie nach eigenen Angaben nicht bekommen. Auf einem am Fahrstuhl klebenden Zettel der GCP heißt es lapidar, wie lange der Fahrstuhlausfall dauern werde, sei unbekannt.
„Das ist doch eine Unverfrorenheit, uns Alten hier einfach so sitzen zu lassen“, bricht es aus Edith Lehnebach hervor: „Ich kann seit meinem Splitterbruch in der rechten Schulter nichts mehr gut tragen - und die helfen uns nicht mal beim Einkauf.“ Tatsächlich hat die Grand City Property eine Traghilfe organisiert - aber nicht für Lebensmittel. Nur Personen, die die Treppe herunter- und dann wieder heraufgetragen werden müssen, können sich an den Arbeiter-Samariter-Bund wenden, heißt es auf dem Zettel am Fahrstuhl. „Vor kurzem musste meine Nachbarin ins Krankenhaus, die wurde dann tatsächlich getragen“, sagt die Seniorin.

„Früher waren wir eine Vorzeigesiedlung“
Edith Lehnebachs Geschichte ist typisch für die Chemiestadt Marl. Sie wohnt seit 50 Jahren in dem Hochhaus, das früher den Chemischen Werken Hüls gehörte. „Mein Mann arbeitete auf CWH, mein Vater und mein Schwiegervater waren schon seit Werksgründung 1938 dabei“, erinnert sie sich: „Früher waren wir hier eine Vorzeigesiedlung, jedes Hochhaus hatte einen einen eigenen Hausmeister, Treppenhaus und Grünanlagen waren immer top.“ Seitdem der Chemiepark vor vielen Jahren seine Immobilien verkauft hat, mehren sich die Klagen, nicht nur an der Pommernstraße.

„Eigentlich wohne ich sehr gerne hier“, sagt Edith Lehnebach und blickt vom Balkon ihrer 70-Quadratmeter-Wohnung über die Dächer Marls. Wann sie wieder mit dem Fahrstuhl nach unten kann ist offen. Wir haben als Redaktion bei GCP nachgefragt. Der Vermieter sagt, ein Ausfall des 60 Jahre alten Fahrstuhls sei nicht vorhersehbar gewesen, der Neubau des Fahrstuhls die teurere, aber auch schnellere Alternative zu einer Reparatur. GCP sieht sich aber außerstande, auch nur einen ungefähren Fertigstellungstermin zu nennen. Edith Lehnebach sitzt also weiter in ihrer Wohnung fest.
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