Ein Jahr nach Scholz‘ Zeitenwende-Rede Was hat sich bei der Bundeswehr seither getan?

Von Jens Strube
Ein Jahr nach Scholz‘ Zeitenwende-Rede: Was hat sich bei der Bundeswehr seither getan?
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Der Applaus des Plenums hallt lange und laut durch den Sitzungssaal des Bundestags. Inmitten der fraktionsübergreifenden Zustimmungsbekundungen setzt Kanzler Olaf Scholz (SPD) seine Rede unbeirrt fort. Drei Tage ist es an diesem Tag her, seit Russland seinen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat. „Wir erleben eine Zeitenwende“, resümiert Scholz an diesem 27. Februar 2022. Es ist nur wenige Minuten, bevor er Deutschlands geschichtlich bedingte militärische Zurückhaltung auf- und eine historische Aufrüstung der eigenen Streitkräfte ankündigt. „Wir werden dafür ein ‚Sondervermögen Bundeswehr‘ aufsetzen“, sagt der Kanzler fest entschlossen. Dieses werde man mit „einmalig 100 Milliarden Euro ausstatten“, Deutschland bekenne sich künftig zudem zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato.

Ein Jahr ist die Scholz-Rede nun her, für die es sogar aus der Opposition von der Union stehende Ovationen gab. In dieser wiederholte er einen Satz, den er bereits einige Tage zuvor auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt hatte. „Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind.“ Eine funktionierende Bundeswehr: „Das ist ja wohl erreichbar für ein Land unserer Größe und unserer Bedeutung in Europa“, war er überzeugt. Doch was ist in den zwölf Monaten danach passiert? Wie steht es um die Bundeswehr? Ein Überblick.

Kritik aus der Union – und von der FDP

So viel vorneweg: Die Euphorie der Rede ist längst verflogen, Ernüchterung prägt stattdessen das Bild – vor allem in der Opposition. „Aus einem Jahr Zeitenwende ist ein Jahr der Zeitenverschwendung geworden“, beklagte am Montag etwa CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. CDU-Außenexperte Roderich Kiesewetter schlug gegenüber der „Augsburger Allgemeinen“ in die gleiche Kerbe: „Die Bundeswehr hat ungeheure Defizite und die Zeitenwende hat bei ihr bislang noch gar nicht begonnen.“ Mit ihrer Meinung stehen die Unions-Politiker nicht alleine da. „Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da“, schrieb Heeresinspekteur Alfons Mais in einem Social-Media-Post auf LinkedIn.

SPD-Chefin Saskia Esken wies die Kritik zwar zurück. Es werde erwartet, dass sich alles „in Echtzeit“ abspiele, doch „gerade in der Verteidigungspolitik muss aber ein Teil abseits der Öffentlichkeit geschehen, auch wenn ich verstehen kann, dass der ein oder andere ein Problem damit hat“, sagte sie der „Augsburger Allgemeinen“. Aber auch bei der mitregierenden FDP wurde Unzufriedenheit laut. Man müsse etwa im Beschaffungswesen der Bundeswehr besser werden, so Generalsekretär Bijan Djir-Sarai. „Da steht noch sehr viel Arbeit an. Hier hat der Verteidigungsminister eine ganze Reihe von Herausforderungen vor sich.“

Sondervermögen: Ein Drittel verplant, aber noch keine Ausgaben

Tatsächlich hat sich die Situation in Sachen Ausrüstung mehr verschlechtert als verbessert. Grund dafür sind allem voran die Waffenlieferungen an die Ukraine. Angefangen mit Panzerfäusten und Stinger-Raketen baute die Bundesregierung seine militärische Unterstützung in den vergangenen Monaten immer weiter aus. Neben modernen Panzerhaubitzen hat Deutschland aus Bundeswehrbeständen auch zahlreiche Berge-, Flak- und Brückenlegepanzer, Artilleriemunition oder Lastkraftwagen geschickt. Die Lieferung von einem Patriot-Luftverteidigungssystem sowie 40 Marder-Schützenpanzern (zum Teil aus Industriebeständen) und 16 Leopard-2-Kampfpanzern sind in der Vorbereitung.

Ersatz zu beschaffen ist nicht nur teuer, sondern dauert auch seine Zeit. Zeit, die vor allem die Rüstungsindustrie zur Planungssicherheit benötige, wie Mitte Februar etwa die Chefin des Panzergetriebe-Herstellers Renk, Susanne Wiegand, mahnte. Sie machte der Bundesregierung schwere Vorwürfe. „Bis heute ist der Bestelleingang bei der deutschen Industrie aus dem Sondervermögen verschwindend gering“, klagte Wiegand, die auch Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist. „Irgendwann frage ich mich schon: Deutschland, was muss eigentlich noch passieren?“

Damit hat die BDI-Vorsitzende einen Punkt. Denn bisher wurden aus dem Sondervermögen im Haushaltsjahr 2022 noch keine Mittel genutzt. Laut Verteidigungsministerium seien aber rund 30 Milliarden Euro für erteilte Aufträge gebunden. Den Großteil davon macht die Bestellung von 35 F-35-Kampfjets aus, für die die inzwischen zurückgetretene Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) mehr als acht Milliarden Euro locker machte. Im Jahr 2026 sollen die ersten Maschinen geliefert werden, die restlichen in jährlichen Tranchen bis 2029. Grünes Licht dafür gab der Bundestag im Dezember, auch für den Kauf eines neuen Sturmgewehrs als Nachfolgemodell für das G-36 (rund 273 Millionen Euro) und die Nachrüstung des Schützenpanzers Puma (etwa 850 Millionen Euro). Gezahlt wird aber erst nach Erhalt.

Das bedeutet: Rund ein Drittel des Sondervermögens ist verplant – aber noch nicht ausgegeben. Der CDU-Verteidigungspolitiker Henning Otte machte deshalb gegenüber dem ARD-Hauptstadtbüro Druck. Nicht nur, dass aus dem anfänglichen hohen „Zeitdruck Zeitlupe geworden“ sei. Erschwerend komme hinzu, dass die Kaufkraft der 100 Milliarden Euro wegen der Inflation dahinschmelze, so der Vizevorsitzender des Verteidigungsausschusses. Nach Schätzung des Verteidigungsministeriums ist die „echte“ Investitionssumme bereits auf 93 Milliarden Euro gesunken.

Forderungen nach weiter Aufstockung des Bundeswehr-Etas

Um die Missstände augenscheinlich wissend, hat Lambrecht-Nachfolger Boris Pistorius (SPD) am Sonntag angekündigt, dass Rüstungsfirmen künftig Abschlagszahlungen bereits für Aufträge erhalten sollen und nicht erst bei Lieferung bezahlt wird. „Das machen wir jetzt in Zukunft. Einfach auch, um zu dokumentieren, dass Geld abfließt“, so der Verteidigungsminister. Gleichzeitig bekräftigte er seine Forderung nach zusätzlichen Finanzmitteln für den Verteidigungshaushalt, „weil wir sonst die Aufgaben nicht wahrnehmen können, die es 30 Jahre lang nicht wahrzunehmen galt“.

Zuspruch erhält Pistorius unter anderem von Heeresinspekteur Mais, der bereits Fortschritte im Beschaffungsprozess verzeichnet. Er betonte zuletzt, dass neben dem Ersetzen von Material – das an die Ukraine abgegeben wurde – auch der „materielle Aufwuchs in Richtung Vollausstattung“ wichtig sei. „Das Sondervermögen alleine wird dafür jedoch nicht reichen.“ Die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl (SPD), forderte auch deshalb Mitte Januar, den Bundeswehr-Fördertopf zu verdreifachen – von 100 auf 300 Milliarden Euro.

Högl und Pistorius machen sich zudem für eine Aufstockung des Verteidigungsetats stark. Konkret sprechen die beiden SPD-Kräfte von zehn Milliarden Euro. Derzeit liegt der Bundeswehr-Haushalt bei 50 Milliarden Euro. Doch gerade um das Versprechen zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato halten zu können, brauche es mehr, argumentieren sie.

Zuspruch erhalten Pistorius und Högl ausgerechnet von CDU-Mann Kiesewetter: „Ich erwarte, dass der Bundeskanzler die Aufstockung des regulären Verteidigungshaushalts zur Chefsache macht und seine Richtlinienkompetenz nutzt.“ SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich schraubt die Erwartungen dagegen zurück. Pistorius werde mit dem Sondervermögen die anstehenden Projekte der kommenden drei Jahre „auskömmlich“ behandeln, aber: „Er muss sich aber auch um die Ausgabenpolitik im Ressort kümmern, da gibt es große Mängel“, so Mützenich. Dies hätten nicht nur externe Fachleute, sondern auch der Bundesrechnungshof angemerkt.

Der Rückblick zeigt: Auf Pistorius und die Bundesregierung kommen noch große Kraftanstrengen zu. Die Zeit der stehenden Ovationen ist ein Jahr nach der historischen Zeitenwende-Rede vorbei. Die Rufe nach raschen Ergebnissen dominieren die Debatte – und könnten mit jeder weiteren Panne oder Verschärfung im Ukraine-Krieg in einer weiteren Zerreißprobe für die Ampel gipfeln.

RND

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