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„Dieses Leid hat eine andere Qualität“: Wie ein Arzt die Versorgung von Geflüchteten erlebt
Krieg gegen die Ukraine
Tausende ukrainische Geflüchtete erreichen täglich die polnische Kleinstadt Medyka. Arzt Wjahat Waraich war für die Hilfsorganisation Humanity first vor Ort im Einsatz. Was er dort erlebt hat.
Das erste Waisenkind traf morgens gegen fünf Uhr am Grenzübergang in Medyka ein. Es hatte einen kilometerlangen Fußmarsch hinter sich – wie fast alle Menschen, die in den vergangenen Tagen aus der Ukraine in die polnische Kleinstadt geflüchtet waren, um sich vor den russischen Angriffen in Sicherheit zu bringen.
Mithilfe von mehreren Helferinnen und Helfern hatte es das Kind geschafft, die polnisch-ukrainische Grenze zu erreichen. Und es sollte nicht die einzige geflüchtete Waise bleiben: Noch 49 weitere kamen an diesem Tag in Medyka an und wurden vor ihrer Weiterreise nach Österreich und Deutschland von Wjahat Waraich medizinisch untersucht.
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„Sie waren alle erschöpft und entkräftet“, erinnert sich der Arzt aus Hannover, der bis vor Kurzem für die Hilfsorganisation Humanity first am polnisch-ukrainischen Grenzübergang in Medyka tätig gewesen ist. Die Zwei- bis 14‑Jährigen klagten zum Teil über Bauchschmerzen und Übelkeit, einige hatten Erfrierungen an den Händen und Füßen. „Einerseits war es für mich schrecklich mitanzusehen, was diese Kinder durchgemacht haben“, sagt Waraich. „Andererseits gab es Hoffnung, weil sie die schreckliche Reise über die Grenze überstanden hatten.“
Mehr als zwei Millionen Ukrainer flüchten nach Polen
Hoffnung und Leid liegen in Medyka eng beieinander. Die Stadt ist im Zuge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine zu einem sicheren Hafen für Geflüchtete geworden. Haben sonst Lastwagen und Transporter am Grenzübergang auf ihre Einreise nach Polen gewartet, sind es jetzt Tausende Menschen, die nichts bei sich tragen außer ihr wichtigstes Hab und Gut. Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) sind seit dem Ausbruch des Krieges mehr als 2,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer nach Polen geflohen – und weitere folgen.
Humanmediziner Waraich wollte den Geflüchteten helfen. Als er Anfang März von Humanity first gefragt wurde, ob er an der polnisch-ukrainischen Grenze medizinische Unterstützung leisten könne, sagte er sofort zu. „Ich habe es als meine Pflicht erachtet.“ Denn Fluchterfahrungen sind ihm keineswegs fremd: Seine Eltern hatten in den 1980er-Jahren wegen religiöser Verfolgung aus Pakistan fliehen müssen. Sie hatten Asyl in Deutschland erhalten, wo Waraich wenige Jahre später zur Welt gekommen war. „Ich habe die Möglichkeit bekommen, hier zu studieren, Arzt zu werden – und das Mindeste, was ich jetzt tun kann, ist, als Arzt den Menschen aus der Ukraine zu helfen“, so der 34-Jährige, der in Hannover auch Bürgermeister im Stadtbezirk Bothfeld-Vahrenheide ist.
Vor allem Frauen mit Kindern und Ältere sind unter den Geflüchteten
Am 7. März machte sich Waraich auf den Weg nach Polen. Er wusste, dieser Einsatz würde anders werden als alle, die er bisher erlebt hatte. Seit 13 Jahren engagiert sich der Arzt ehrenamtlich für Humanity first und war immer wieder nach Afrika, zum Beispiel nach Benin und São Tomé und Príncipe, sowie nach Pakistan gereist, um dort hilfsbedürftige Menschen medizinisch zu versorgen. „Schon auf dem Hinflug war mir klar, dass in Medyka eine ganz andere Not bestehen würde als in meinen vorherigen Einsätzen – und so war es dann auch.“

Eine alte Dame aus der Ukraine sitzt in einem Rollstuhl, eingewickelt in eine Wärmefolie Rettungsfolie gegen die frostigen Temperaturen am Grenzübergang Medyka in Polen. Weiterhin strömen jeden Tag tausende Menschen aus der Ukraine in den Westen. © picture alliance/dpa
Was der Hannoveraner an der polnisch-ukrainischen Grenzen sah, waren dicht an dicht gereihte Menschen in kilometerlangen Schlangen, die stundenlang in der Kälte darauf warteten, endlich einreisen zu dürfen. Vor allem Frauen mit ihren Kindern und Ältere waren darunter. „Man hat in ihren Gesichtern ihre Trauer, ihren Schmerz und ihre Erschöpfung sofort ablesen können“, sagt Waraich.
Trotz Ausgangssperre waren einige von ihnen auch nachts unterwegs gewesen, um schnellstmöglich ihre von Bomben zerstörte Heimat zu verlassen. In der Dunkelheit stürzten sie zum Teil in Gräben, zogen sich Verletzungen zu, die Waraich schließlich in Medyka versorgte. „Die Menschen sind traumatisiert und unter Schock gewesen“, berichtet der Mediziner. Beschwerden hätten sie oftmals erst bei genauer Befragung erwähnt, weil sie mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen seien.
In Medyka fehlt professionelles Personal
An der polnisch-ukrainischen Grenze haben internationale Hilfsorganisationen, darunter auch die Internationale Organisation für Migration, eine Art Erstversorgungscamp eröffnet. Dort war Waraich einer von zwei Ärzten, die sich in den aufgebauten Zelten am Straßenrand um die Neuankömmlinge kümmerten. So auch um eine 75‑jährige Frau, die sich mit letzter Kraft über die Grenze geschleppt hatte, wo sie schließlich zusammengebrochen war und sich ein Hämatom am Kopf zugezogen hatte. „Das sind Situationen, die mich nach wie vor begleiten“, sagt der Mediziner. „Dieses Leid hat eine ganz andere Qualität, wie ich sie zuvor noch nie gesehen habe.“
Waraich war vor allem dafür zuständig, die ärztliche Hilfe vor Ort zu organisieren. Denn eine zentrale medizinische Versorgungseinrichtung gab es in Medyka nicht. „Es mangelte an professionellem Personal“, so der 34‑Jährige. Menschen, die in Rettungsuniformen durch das Camp liefen, hatten zumeist gar keine medizinische Grundausbildung und konnten keine ordentliche Erstversorgung vornehmen. „Die Hilfe war zu Beginn sehr unorganisiert.“
Psychologische Betreuung ist kaum möglich
Erst im Laufe der Zeit etablierten sich strukturierte Abläufe, die nach Ansicht von Waraich nun weiter ausgebaut werden müssten. Auch brauche es eine provisorische Notfallambulanz am Grenzübergang. Dort könnte eine Erstaufnahme stattfinden und der Gesundheitszustand der Geflüchteten mithilfe von mitgebrachten medizinischen Geräten wie Ultraschall, Elektrokardiogramm (EKG) oder Pulsoxymetrie genauer untersucht werden, um schnellstmöglich adäquate Hilfe leisten zu können.
Psychologische Betreuung für die Menschen aus der Ukraine könne hingegen „nur rudimentär vor Ort stattfinden“, sagt der Hannoveraner. Zum Beispiel, indem sich einzelne Helferinnen und Helfer als Clowns verkleiden, um die geflüchteten Kinder aufzumuntern. Wichtig sei jedoch, langfristige psychologische Hilfe anzubieten, damit Geflüchtete, die unter den traumatischen Erlebnissen leiden, diese verarbeiten können.
Geflüchtete erhalten warmes Essen und SIM-Karten
Während sich Waraich um das gesundheitliche Wohl der geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer kümmerte, gaben seine Kolleginnen und Kollegen von Humanity first an Ständen warme Mahlzeiten, vor allem Reis und Linsengerichte, sowie Getränke aus. Ebenso wie kostenlose Handy-SIM-Karten, mit denen die Geflüchteten ihre Angehörigen kontaktieren konnten. „Die Leute konnten ankommen, sich aufwärmen, etwas trinken, etwas essen – und das ist schon fast die halbe Medizin“, sagt Waraich.
Auch das polnische Militär und die Polizei waren im Erstversorgungscamp im Dauereinsatz. „Ich erinnere mich an einen Soldaten, der ein Kind in seinem Arm trug, in einer Hand noch den Hausrat der Familie, und die Mutter lief nebenher“, erzählt der Humanmediziner. Die Einsatzkräfte waren vor allem für die Koordination des Flüchtlingszustroms zuständig.
In Medyka angekommen, medizinisch versorgt und mit Essen und Trinken gestärkt, ging die Reise für die Ukrainerinnen und Ukrainer weiter. Sie wurden von den Soldatinnen und Soldaten sowie von Polizistinnen und Polizisten zu Bussen geleitet, die sie zu einem wenige Kilometer entfernten Supermarktparkplatz fuhren. Dort koordinierten die polnischen Einsatzkräfte schließlich die Weiterfahrt innerhalb des Landes oder in die Nachbarländer.
Arzt bemängelt fehlende Unterstützung der EU
Von der EU habe bei alledem hingegen jede Spur gefehlt, kritisiert Waraich. Die polnische Regierung und private Hilfsorganisationen seien in Medyka auf sich allein gestellt gewesen. „Das hat mich schon enttäuscht.“ Zwar seien tonnenweise Hilfsgüter aus anderen Ländern eingetroffen – im Gedächtnis geblieben sind dem Mediziner vor allem selbst gepackte Care-Pakete eines Fußballvereins aus dem Ahrtal, der bei der Flutkatastrophe im vergangenen Jahr seine gesamte Sportanlage verloren hatte. Allerdings brauche es an der Grenze gleichermaßen Strukturen mit professionellem Personal.
„Es ist nicht leicht vor Ort, sich das Leid der Menschen anzuschauen, sich ihre Geschichten anzuhören“, sagt Waraich. „Man muss einen Umgang damit finden, um nicht an den Geschichten zugrunde zu gehen.“ Als Mediziner weiß er um diese psychische Belastung und hat gelernt, ihr zu begegnen. Dennoch ging die Situation der Geflüchteten in Medyka nicht spurlos an ihm vorbei: „Es lässt einen nicht kalt.“
Acht Tage lang arbeitete Waraich an der polnisch-ukrainischen Grenze. Dann wurde er von anderen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen abgelöst. Es sei ein Abschied mit gemischten Gefühlen gewesen, berichtet er. „Ich war froh und erleichtert, so vielen Menschen geholfen zu haben, aber ich wusste auch, dass es damit nicht erledigt ist.“ Im April will er noch einmal nach Medyka reisen. „Wir müssen in dieser Not zusammenhalten“, sagt er. „Das gebietet die Humanität.“
Der Artikel "„Dieses Leid hat eine andere Qualität“: Wie ein Arzt die Versorgung von Geflüchteten erlebt" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.