Ein Umweltsünder, das denkt so mancher über ihn. Er, der keine 25 Fuß- und kaum 10 Bahn-Minuten weit von seinem Büro entfernt wohnt, nutzt für den Arbeitsweg meistens das Auto. Dabei wäre es doch viel klimaschonender, wenn er den Wagen stehen ließe – billiger und auch für ihn selbst gesünder wäre es auch.
Doch wer ihn damit konfrontiert, muss sich eines feinen Konters erwehren: „Dafür esse ich kein Fleisch. Seit vielen Jahren nicht“, sagt er – und dass er sich deshalb in Sachen persönlicher Klimabilanz gar nichts vorwerfen lassen müsse von Leuten, die der Currywurst und dem Wiener Schnitzel bis heute nicht abgeschworen haben.
Fleischesser jedenfalls geraten angesichts dieses Arguments schnell ins Grübeln – selbst wenn sie sich in Sachen Umweltschutz ganz toll fühlen, weil sie seit Jahren mit der Bahn in den Urlaub fahren und vorbildlich ihren Müll trennen. Schnell einigen können sich beide Seiten zwar darauf, dass sie beide ihre Schwachstelle in Sachen Klimaschutz haben. Aber wer ist der schlimmere Sünder?
Auf diese Frage gibt es zwei Antworten – mindestens. Für die einen reicht es, Statistiken zu bemühen. Seit vielen Jahren etwa kann man sich auf der Internet-Plattform atmosfair.de nicht nur ausrechnen lassen, wie viel Geld man als „Klima-Kompensation“ für einen Linienflug von x nach y zahlen müsste. Sondern man erfährt auch, wie viele tausend Kilometer man mit einem Mittelklassewagen fahren dürfte, um genauso viele Tonnen CO₂-Ausstoß zu verantworten wie mit einem einzelnen Flug. Wer etwa von Dortmund nach Mallorca und zurück fliegt, ist für mehr Emissionen verantwortlich als ein Äthiopier in einem Jahr. Und er könnte alternativ knapp 4000 Kilometer mit dem Auto fahren. Fliegt eine ganze Familie mit zwei Kindern, sind es bereits 16.000 Kilometer.
Oder wollen Sie in die Karibik fliegen? Wenn Sie es nicht tun, könnten sie stattdessen vier Jahre lang täglich Auto fahren – für das Klima käme das auf dasselbe hinaus. Sie könnten dafür auch Ihren Kühlschrank 48 Jahre lang laufen lassen.
Welcher Sektor stinkt besonders?
Aber was bringt es eigentlich, einzelne Sektoren gegeneinander auszuspielen, wie es derzeit populär ist? Mein Schnitzel ist viel weniger schlimm als dein Griechenland-Flug! Ja, ich gebe gerne Gas, hab dafür aber Solar auf dem Hausdach! „Das ist aus meiner Sicht eine Geisterdebatte“, sagt Prof. Ottmar Edenhofer, der Chef des Potsdam-Instituts für Klimaforschung in einem Podcast der Zeit.
Politisch war es bis vor Kurzem so, dass die einzelnen Ministerien dafür verantwortlich waren, die Klimaziele in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich einzuhalten – beispielsweise also das Verkehrsministerium von Volker Wissing (FDP) die Klimaziele für Straßen- oder Flugverkehr. Inzwischen ist das geändert, ist die gesamte Bundesregierung dafür verantwortlich, ein Gesamtziel einzuhalten.
„Das ist eine Augenwischerei“, kommentiert Instituts-Chef Edenhofer diese Politik, „weil auch vorher schon, wenn die Emissionen nicht ausreichend gesunken sind, Maßnahmen sektorübergreifend hätten eingeführt werden können.“ Stattdessen habe man de facto die Verantwortung der Ministerien aufgelöst, „davon werden die Emissionen aber nicht reduziert“. Dass bis zur kommenden Bundestagswahl 2025 noch etwas richtig vorangehen könnte, glaubt Edenhofer ohnehin nicht. Zu nahe seien wir bereits am Bundestagswahlkampf. Also Verantwortung dort lassen, wo sie steuerbar ist; in den jeweiligen Ressorts. So ist das im Politischen. Und im Privaten?
Ja, am Ende können und müssen wir auf diesem Planeten wohl Dinge einschränken oder bleiben lassen, um den CO₂-Ausstoß zu senken. Nun ist es andererseits weniger heroisch, in einem zentral gelegenen Altbau-Quartier einer Metropole zu wohnen und bei U-Bahnen im Zweiminutentakt und gut ausgebauten Radwegen stolz zu tönen, man verzichte aufs Auto. Auch erscheint es nicht hilfreich, mit dem Finger auf die Familien zu zeigen, die in Kleinstädten mit häufig eben schlechter Infrastruktur oder auf dem Land mit langen Wegen auf das Auto, vielleicht gar auf zwei Autos angewiesen sind.

Faktor Internet
Wie kompliziert es ist, sich gegenseitig zu beschuldigen, wie häufig ungerechtfertigt, sich besser und klimafreundlicher zu fühlen, zeigt eine fünf Jahre alte britische Studie. Demnach verursachen Computer, Smartphones und Internet weltweit bis zu 3,8 Prozent der CO₂-Emissionen.
Der gesamte Flugverkehr pendelt sich in allen Berechnungen „nur“ irgendwo zwischen 2,5 und 3 Prozent ein. Wer in den Sozialen Netzwerken des Internets also unermüdlich zum Klimaschutz aufruft, erweist diesem vermutlich unbewusst einen Bärendienst. Auf die Idee, das Internet verbieten zu wollen, kommen dennoch höchstens ein paar Diktatoren – und das auch weniger aus Klimaschutzgründen.
Faktor Flugzeug
Der damalige Chef des Flughafens Hannover, Raoul Hille, spielt den rußschwarzen Peter daher gerne zurück und empfiehlt den jungen Klimaschützern, doch mal auf Netflix zu verzichten. „Ganz ehrlich: Wenn ich das Wort Flugscham höre, kriege ich Blutdruck“, sagte er. „Keiner muss das Fliegen mögen und man kann alles diskutieren, aber bitte im Lichte objektiver Fakten.“
Ein Airport-Chef, der das Fliegen verteidigt – sapperlot, das böse Internet ist es, das uns alle reinreißen wird.
Würde Klimaschutz um jeden Preis also bedeuten, dass wir uns in die 1970er-Jahre entdigitalisieren sollten? Natürlich nicht; es zeigt lediglich, dass viele der heute häufigen und meist digital vorgetragenen „Blame Games“ (Spielen mit der vermeintlichen Schuld der jeweils anderen) unehrlich und nutzlos sind. Und natürlich ist eine online abgehaltene Konferenz deutlich klimafreundlicher als der Flug zum Konferenz-Ort. Flugscham ist das Stichwort.
Am Flughafen Frankfurt erzählt eine junge Frau in eine Kamera: „Wir haben eine Reise nach Paris gewonnen, neulich. Das haben wir dann gemacht, aber es ist mir schon schwergefallen.“ Vielleicht eine menschliche Art, mit dem Klimawandel umzugehen: Wir machen weiter wie bisher, aber fühlen uns dabei schlecht bis schuldig. Bringt es das?

Faktor Fleischkonsum
Und wie ist es mit Fleischkonsum? Das hängt von vielen Faktoren ab. Klar scheint: Rindfleisch aus Brasilien hat den größten CO₂-Fußabdruck. Wer davon ein Kilo verzehrt, könnte stattdessen auch 1600 Kilometer Auto fahren. Das haben Wissenschaftler aus Österreich und den Niederlanden ermittelt. Deutlich besser schneidet dagegen das europäische Fleisch ab, schon weil es nicht über den Atlantischen Ozean verschifft oder geflogen werden muss.
Und jetzt bröckelt der Mythos etwas: Das klimafreundlichste Fleisch ist Hühnchen aus den Niederlanden. Dafür kann man gerade mal 31 Kilometer mit dem Auto fahren. Und: Das Geflügel hat damit nur noch eine etwas schlechtere CO₂-Bilanz als Tofu. Verzehrt man ein Kilo des Sojaproduktes, entspricht das 19 Kilometer Autofahrt.
Dem Klima zuliebe gar nichts mehr zu essen, erscheint allerdings keine tragfähige Lösung zu sein. Dennoch frohlockt die Fleischlobby auf der Plattform X, ähnlich wie die der Flieger, nach dem Motto: Wir mögen böse sein, aber andere sind böser. User „Tim Thaler“ springt den Fleischfreunden bei: „Warum werden hier Erbsen gezählt und bei den dicken Brocken schaut man weg? Was ist mit dem CO₂-Ausstoß in den Kriegen? Was ist mit dem schädlichen Methan – beim Fracking?“, fragt er.

Faktor Ausland
Räumen wir weiter auf mit Mythen und Unehrlichkeiten. Im Jahr 2022 lag der CO₂-Verbrauch pro Kopf in Deutschland gemäß dem Statistischen Bundesamt bei 7,98 Tonnen. Und in China? Bei 7,99 Tonnen, oder mit anderen Worten: bei gerade einmal 10 mickrigen Kilogramm mehr CO₂-Ausstoß pro Person und Jahr.
Nun sind zwar die Emissionen hierzulande im vergangenen Jahr deutlich zurückgegangen, aber wahnsinnig überlegen sollten wir uns wohl trotzdem nicht fühlen. Und dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, dass Deutschlands schlimmste Verschmutzungszeiten lange vorbei sind – gerade im Ruhrgebiet wissen wir, wovon wir reden, während in China vieles erst nachgeholt wird. Und noch etwas kommt hinzu: Wo lassen denn die deutschen Firmen produzieren? Wo werden die deutschen Turnschuhe und Jacken, Autoteile und Schlauchboote zusammengeklöppelt und hergestellt? In China, zumindest sehr häufig. Oder in anderen asiatischen Staaten, die bei der Produktion deutlich weniger auf die Umwelt achten, als es hierzulande der Fall wäre. Ist es also ehrlich, so zu tun, als hätten wir hierzulande damit nichts zu tun? Auch dieses Kirchturmdenken vom doch jetzt schon ganz okayen und bewussten Deutschland stimmt also nicht ganz, der schöne Turm wackelt beträchtlich.
Also soll jetzt manches, vieles, alles verboten werden? Klimaforscher Ottmar Edenhofer sagt jein: „Wir neigen in Europa dazu, vieles zu regulieren und weich zu regulieren. Ich habe eine Präferenz dafür, wenig zu regulieren und dafür hart.“ Der Streit darüber, was das sein könnte, ist hiermit eröffnet.
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