Bei der größten Protestwelle seit Jahrzehnten in China sind zahlreiche Menschen festgenommen worden. Die Demonstrationen vom Wochenende dauerten in vielen Städten bis in die Nacht zum Montag an. Der Unmut im Volk richtet sich gegen die strikten Maßnahmen der chinesischen Null-Covid-Politik wie wiederholte Lockdowns, Massentests und Zwangsquarantäne.
Noch in den frühen Nachtstunden ging ein Großaufgebot der Polizei in der Hauptstadt Peking gegen Hunderte protestierende Menschen nahe dem Diplomatenviertel vor.
Als Symbol des Widerstands und des Protests gegen die Zensur hielten viele Demonstranten unbeschriebene weiße Blätter hoch. Es wurden Parolen wie „Hebt den Lockdown auf“ und „Wir wollen keine PCR-Tests, wir wollen Freiheit“ gerufen. Protestmärsche gab es auch in anderen Millionenstädten wie Shanghai, Chengdu, Chongqing, Wuhan, Nanjing und Guangzhou. Auch an Hochschulen wie der Tsinghua-Universität in Peking regt sich Unmut. Wie viele Menschen festgenommen wurden, war unklar. In China herrschte praktisch eine Nachrichtensperre.
Britischer Journalist soll von Polizei misshandelt werden
In Shanghai wurde der BBC-Reporter Ed Lawrence festgenommen und nach eigenen Angaben von Polizisten misshandelt. „Die BBC ist extrem besorgt über die Behandlung unseres Journalisten Ed Lawrence, der festgenommen und in Handschellen gelegt wurde, während er über die Proteste in Shanghai berichtete“, sagte ein Sprecher des britischen Senders. Lawrence sei bei der Festnahme von Polizisten geschlagen und getreten worden, obwohl er eine Akkreditierung als Journalist habe. Erst Stunden später sei er wieder freigelassen worden.
Es sind die größten Proteste in China seit der Demokratiebewegung 1989, die das Militär am 4. Juni jenes Jahres blutig niedergeschlagen hatte. Soziale Medien waren voll mit Videoaufnahmen, die von der Zensur aber schnell wieder gelöscht wurden. Auslöser der seltenen öffentlichen Unmutsbekundungen war ein Wohnungsbrand in der Metropole Ürümqi in Xinjiang in Nordwestchina am Donnerstagabend mit mindestens zehn Toten. Viele äußerten den Verdacht, dass die Rettungsarbeiten durch die strengen Corona-Maßnahmen behindert worden seien.
Ganze Wohnblöcke abgeriegelt
Durch die extrem rigiden Maßnahmen der Behörden im Kampf gegen das Coronavirus nimmt der Unmut in der Bevölkerung seit Wochen immer mehr zu. Viele Millionenstädte sind weitgehend lahmgelegt. Die Menschen stören sich an ständigen Tests, Ausgangssperren, Zwangsquarantäne, lückenloser Überwachung durch Corona-Apps und Kontaktverfolgung, mit denen die Behörden versuchen, die sich leicht verbreitenden Omikron-Varianten des Virus in den Griff zu bekommen.
Schon bei einzelnen Infektionen oder Verdachtsfällen werden ganze Wohnblöcke und Wohnanlagen abgeriegelt. Verärgerte Bewohner rissen in Peking und anderswo errichtete Absperrungen nieder. In der Hauptstadt sind Geschäfte, Restaurants und Schulen geschlossen. Ein Fünftel der zweitgrößten Volkswirtschaft und damit Hunderte Millionen Menschen dürften landesweit von Lockdowns betroffen sein, schätzen Experten. Viele Unternehmen stoßen an ihre Grenzen. Beschäftigte und gerade Wanderarbeiter müssen häufig schmerzhafte Lohneinbußen hinnehmen. Trotz des rigorosen Vorgehens gegen das Virus wird das Milliardenvolk gegenwärtig von der schlimmsten Corona-Welle seit Beginn der Pandemie vor knapp drei Jahren heimgesucht. Die Gesundheitskommission meldete am Montag mit rund 40.000 Neuinfektionen wieder einen Höchststand im Land. In Peking waren es knapp 3900 Fälle.
„Druck in der Bevölkerung steigt wie im Dampfkessel“
Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Ich glaube schon lange, dass die Null-Covid-Politik der Kommunistischen Partei Chinas zum Scheitern verurteilt ist. Der Druck in der Bevölkerung steigt wie in einem Dampfkessel und bricht sich nun erstmals Bahn.“ Die Verbindung von Corona-Protesten mit Forderungen nach Freiheit und Demokratie im Hochschulwesen habe „eine neue Qualität“.
In Politbüro und Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas könne das nur als Bedrohung des eigenen totalen Herrschaftsanspruchs gewertet werden, sagte Lambsdorff. „Man muss daher eine sehr harte Reaktion des Regimes befürchten. Die Proteste stehen noch ganz am Anfang. Es wäre naiv zu glauben, dass sie in diesem Stadium bereits zu fundamentalen Veränderungen führen könnten.“
Der außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, Schmid, sagte der dpa: „Die Proteste zeigen: Der Drang nach Freiheit ist universell.“ Die Menschen in China wollten sich genauso frei entfalten können wie anderswo auch. „Das sture Festhalten an der Isolationspolitik ist schon längst nicht mehr allein durch Corona zu erklären, sondern dient der Abschottung der chinesischen Gesellschaft von der Welt und damit dem Machterhalt der KP.“ FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe: „Proteste dieser Art waren bislang nicht bekannt. Sie zeigen das Ausmaß der aktuellen Unzufriedenheit mit der repressiven Politik der Kommunistischen Partei.“ China stehe vor enormen außen- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen. „Nun kommen große innenpolitische Schwierigkeiten hinzu. Die China-Strategie der Bundesregierung muss dem Rechnung tragen.“
Die Bundesregierung arbeitet derzeit an einer neuen China-Strategie. Nach einem ersten Papier sollen die Menschenrechte eine größere Rolle spielen. Außerdem sollen Importabhängigkeiten etwa bei Rohstoffen abgebaut werden. Die Beziehungen zu Taiwan sollen ausgebaut werden. Der Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin erklärte, die von Xi Jinping verordnete Null-Covid-Politik zusammen mit einer gescheiterten Impfstrategie führe China in die Sackgasse. „Zum ersten Mal wird die Kommunistische Partei Chinas weitflächig mit deutlicher Kritik an ihrer Regierung konfrontiert.“
dpa
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