Fremd- und Selbstwahrnehmung sind ja so Sachen. „Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt“ – liegt Bochum. Auf die Grönemeyersche Zeile können sich alle einigen. „Ist es besser, viel besser als man glaubt“, singen die Einheimischen, nicht ohne pathetische Gänsehaut. „Du bist keine Schönheit“, denkt der Rest der Republik, der die Stadt nur aus den Schlagzeilen kennt: ThyssenKrupp, Nokia, Opel, Opel und immer wieder Opel. Bochum und Krise spielten stets den Doppelpass. So viele Krisen, dass die heftigste Krise fast vergessen ist - der Bergbau.
70 Schachtanlagen gab es hier mal, 1929 war Bochum damit die zechenreichste Stadt Europas. 2529 Schächte wurden in Bochumer Boden getrieben. Doppelt so viele wie in Dortmund (1209) und weit mehr als in Essen (1989). Zehntausende Arbeitsplätze hingen daran, Familien, Zulieferer. Auch nach dem Krieg war Kohle alles, das Grubengold hat Bochum wieder hochgeholt.
Bochumer Zechen schlossen schnell
Das Ende des Bergbaus kam schnell. 1960 schloss mit Zeche Prinz-Regent der erste Pütt. 1973 Zeche Hannover, die letzte Zeche der Stadt. Von Europas größter Zechenstadt zur Ex-Bergbaustadt in 13 Jahren. In Worten: Dreizehn.
(Dass Bochum nach der Eingemeindung Wattenscheids doch noch mal Bergbaustadt wurde, schlabbert man besser. Ob Wattenscheider wirklich, wirklich Bochumer sind, ist in der Hochschulstadt eine Wissenschaft für sich.).

Hans Mohlek bewahrt zusammen mit den Knappen vom BKV Glückauf Gerthe 1891 die Bergmanns-Tradition in Bochum. © Legrand
Wie groß muss der Schock, das Leid gewesen sein? Geht so. „Heute ist der denkwürdige Tag für die Stadt Bochum“, schrieben die Ruhr Nachrichten am 31. März 1973 im Lokalteil: „Nichts könnte sinnfälliger den Strukturwandel kennzeichnen, den die Kommune in den letzten Jahren erlebt hat. Als Prinz Regent und Dannenbaum schlossen, wurden schwarze Fahnen durch die Stadt getragen. ... Einer der tragenden Säulen erwies sich als wenig tragfähig.“ Und dann: „Seit gestern wird nicht mehr auf der Zeche Hannibal gefördert, seit heute nicht mehr auf Zeche Hannover. Das Ende einer Epoche provoziert nicht zu dramatischen Demonstrationen. Es wird überdeckt von der Realität der aufstrebenden Universitätsstadt.“ Abschiedsschmerz klingt anders.
Tradition am Leben halten
„Das hat man uns versucht einzureden. Das war die offizielle Haltung über Jahrzehnte“, sagt Hans Mohlek (Foto). Und dann hört man doch noch den Abschiedsschmerz. Der 57-Jährige ist Vorsitzender des Bergmanns-Kameradschafts-Vereins Glückauf Gerthe 1891. 45 Jahre nach Ende des Bergbaus halten sie die Tradition und die Erinnerungen am Leben. Mohlek ist Bochumer und war Bergmann, ergo ein Pendler: Malochte lange auf Prosper-Haniel in Bottrop. Was Bottrop nun bevorsteht, hat Bochum lange hinter sich: Schicht am Schacht. Wehmut ist bei Mohlek nicht zu überhören: „Bochum hat sich massiv gewandelt.“
Irgendwo stand immer ein Schlot, eine Zeche, als der Bochumer Junge im Schatten von „Lothringen“ aufwuchs. „Für uns Kinder waren die Zechen töfte Spielplätze“, sagt er. Aus den Spielplätzen wurden Abenteuerspielplätze, als aus den Zechen Brachen wurden. Drumherum wurde es langweiliger. „Alle paar Hundert Meter gab es hier eine Kneipe. Jetzt müssen Sie suchen, bis Sie eine finden. Tante-Emma-Läden verschwanden, der Bäcker, der Metzger: nicht alles sofort, aber eins nach dem anderen“, sagt Mohlek. Mit dem Aus der Zechen ist „viel über den Jordan gegangen“.
Von Bergmannsheil über Bergbaumusuem zu Vonovia
„Das Beste vom Bergbau ist in Bochum geblieben“, sagt Professor Rolf Heyer und zählt auf: das Bergmannsheil, die Knappschaft, das Knappschaftskrankenhaus, das Bergbaumuseum, die frühere Bergbauschule und heutige Technische Hochschule Georg Agricola und – last but not least – mit Aral und dem DAX-Konzern Vonovia zwei große Zentralen mit Ursprung in der Kohlechemie und dem Werkswohnungsbau. Aus der Sicht Heyers, einem der Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung, ist viel richtig gemacht worden.

„Das Beste vom Bergbau ist in Bochum geblieben“, sagt Professor Rolf Heyer, Geschäftsführer der Bochum Perspektive 2022 GmbH. © Bochum Wirtschaftsentwicklung
Einerseits andererseits. Die Arbeitslosenquote in Bochum liegt mit 8,8 Prozent über dem NRW-Durchschnitt von 6,6. Aber: unter dem Schnitt der Nachbarn Essen (10,2) und Dortmund (10,1). Die Blume im Revier?
Die Stadt musste stets selbst zupacken, Hilfe kam aber von außen. „Studenten und Kadetten“, hieß es in den 60ern. Das erklärt den Optimismus des Zeitungsartikels. 1965 hatte die Ruhr-Universität den Lehrbetrieb aufgenommen. Heute ist Bochum mit neun Hochschulen und 57.000 Studierenden eine der größten Hochschulstädte Deutschlands. Hans Mohlek bringt es auf den Punkt: „Wir hatten Ende der 50er-Jahre 500.000 Bergleute im Ruhrgebiet und nicht einen Studenten. Das hat sich gedreht.“
Opel baute den Kadett
Das zweite Standbein war Opel. Die Stadtoberen zogen den Autobauer in Geheimgesprächen an Land. Gegen den Willen der Bergbaufirmen, die einen Wettbewerb um höhere Löhne und die Haftung für Bergschäden fürchteten. Bis 1958 förderte Zeche Dannenbaum, 1963 rollte schon der erste Kadett vom Band.
„Das ist heute kaum noch vorstellbar“, sagt Heyer. Das Tempo von Abriss und Neubau beeindruckt. „Die Planung hat sich seitdem verkompliziert“, sagt Heyer: „Damals war von Altlasten keine Rede.“ Heute dafür umso mehr. Aufwändige Terrassierungen und Verfüllungen waren nötig. Oben das Himmelbett für Tauben, tief unten die Hinterlassenschaften des Bergbaus. Ein Problem überall im Ruhrgebiet, doch immerhin hat Bochum eine attraktive große Fläche. Fast die Hälfte der 71 Fußballfelder Gewerbefläche sind vermarktet. Allein fünf Fußballfelder ist das neue DHL-Paketzentrum groß. Vor allem soll aber geforscht und entwickelt werden.
Ruhr-Uni investiert
Die Ruhr-Uni bündelt Aktivitäten, die aus Forschung ein Business machen sollen. Zuletzt unterzeichnete Escrypt den Ansiedlungsvertrag, ein IT-Unternehmen der Bosch-Gruppe. Bis zu 2200 Entwickler sollen hier mal programmieren. Andere Unternehmen sind schon da. Insgesamt, so rechnet die Stadt, seien auf dem Gelände wieder so viele Jobs entstanden wie es zuletzt bei Opel waren. Der Pulsschlag aus Stahl ist leise geworden, IT-Sicherheit und Gesundheitswirtschaft sind zu neuen Taktgebern auserkoren.
Zeche Dannenbaum, dann Opel, dann „Mark 51°7“ – wie weit der Strukturwandel in der Unistadt schon gediehen ist, zeigt allein der Name des gleichen Geländes. 51°7. Verkopft, nicht griffig. Das tut dem Erfolg keinen Abbruch.
Industriekultur kam zu spät
Was bleibt, wenn sich alles wandelt? In Bochum ist viel abgerissen worden. „Da fehlte früher das Selbstbewusstsein“, sagt Mohlek: „Die Städte im Ruhrgebiet hatten alle dieses Schmuddelimage. ‚Die fressen nur Brikett, da ist alles schwarz. Das Ruhrgebiet ist nicht sehenswert.‘ Das wurde uns immer eingetrichtert.“ Also riss man die Relikte lieber schnell ab. Wenig blieb: Zeche Hannover ist immerhin ein LWL-Museum, Zeche Holland in Wattenscheid wird gerade restauriert. Das berühmteste Fördergerüst steht am Bergbaumuseum. Es stammt aus Dortmund von Zeche Germania.
Die Bergbaukrise erwischte Bochum zu früh für die Industriekultur. Aber früh genug, um sich nicht mit Stahl- und Ölkrisen zu einem Tsunami der Probleme aufzutürmen. Dass 1973 eben keine schwarzen Fahnen durch die Stadt getragen wurden, lag auch daran, dass Tausende Bergleute beim Autobauer am Band standen. Der Tsunami blieb aus, dafür rollte Welle für Welle nacheinander an: Kohle, Stahl, Opel.

Bochum ist mit der Ruhr-Uni und acht weiteren Hochschulen einer der größten Hochschul-Städte in Deutschland. © picture alliance / dpa
Wie war das mit Fremd- und Selbstwahrnehmung? Dem einen gehen die Krisen nicht mehr aus dem Kopf, dem anderen kommen sie aus den Ohren heraus. Sind da nicht auch das neue Musikzentrum und die neue Gesundheitsfachhochschule, die Jahrhunderthalle, der Moltkemarkt am Freitagabend? Und das Bermuda3Eck, das größte Kneipenviertel im Revier? Auch wenn es gerade mit Problemen zu kämpfen hat – man hört es laut in der Nacht.
Jahrhunderthalle und Bermuda3Eck
45 Jahre ist Bochum keine Bergbaustadt mehr. Eine lange Zeit. Aber umgekehrt: Abgeschüttelt und vergessen ist noch nichts. „Wir spüren seit Monaten mehr Nachfragen“, sagt Hans Mohlek. Jüngere interessieren sich für die Geschichte, für die Tradition. Hier, wo das Herz noch zählt. Auch Nicht-Bergleute melden sich beim Knappenverein und werden mit Pannschüppe und Hammer zum Hauer geschlagen, so Mohlek: „Das wird das Modell für die Zukunft sein“.
Im Schrebergarten eine Laube? Das reicht nicht mehr. „Es geht um Lebensqualität“, sagt Rolf Heyer. Die Stadt plant Neubaugebiete, Parks, ein Programm für Bäume. Grün muss es schon sein. Die Innenstadt dagegen leider total verbaut. Umso größer die Pläne. Das hässliche Parkhaus vorm Bahnhof? Bald ersetzt durch ein Hochhaus mit 400 Studentenappartements. Das Bergbaumuseum bald kernsaniert. Eine Markthalle – einmalig im Ruhrgebiet – soll das Highlight im neuen Einkaufs-Quartier werden. „Das ist eine große Chance“, sagt Heyer. Mehr Studenten müssten in Bochum, im Ruhrgebiet bleiben wollen. Wer wohnt schon in Düsseldorf?