80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kommen noch immer Heldengeschichten ans Licht – von Menschen, die hinsahen und sich im Stillen dem Nazi-Regime widersetzten. Eine davon führt nach Bocholt-Barlo: Wie jetzt bekannt wurde, half eine Bauernfamilie dort zwei jüdischen Mädchen bei ihrer Flucht über die niederländische Grenze. Werner Tepasse, heutiger Hofbewohner und Nachfahre, kann im Gespräch mit dem BBV allerdings nur wenige Details dazu nennen. Seine Eltern Katharina und Heinrich, sagt der 75-Jährige, „haben nicht viel darüber gesprochen“. Was er weiß: Damals musste alles streng geheim ablaufen, um nicht selbst in die Fänge von Hitlers Schergen zu geraten.
Was damals geschah, lag lange im Schatten der Vergangenheit. „Es wurde nie danach gefragt“, sagt Tepasse. Zurückgelassenes der Mädchen, eine jüdische Menora und einen Besamien-Turm, hat die Familie zur Synagoge nach Winterswijk gebracht. Deren Stiftung nutzt die wertvollen Objekte, um das stille Zeugnis der Menschlichkeit jetzt bekannt zu machen. Vor interessiertem Publikum zeichnet sie am Sonntag, 27. April, unter anderem das Leben der jüdischen Schwestern anhand der Stationen ihrer Flucht nach, auch in Barlo. Die Plätze sind allerdings begrenzt.
Die Flucht der Mädchen
Im Fokus stehen die Töchter der Familie Hirsch aus Mülheim an der Ruhr: Helene war 17, ihre Schwester Eva 13 Jahre alt, als sich ihr Leben radikal veränderte. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 brannten im gesamten Deutschen Reich Synagogen, jüdische Geschäfte wurden zerstört, unzählige Menschen verhaftet. Im Dezember entschieden Julius und Henriette Hirsch, ihre Kinder in die Niederlande zu schicken. In ein Land, das damals noch als Zufluchtsort galt.
Eine Station der Flucht: der Hof der Familie Tepasse in Barlo, nahe der deutsch-niederländischen Grenze. Die Mädchen haben sich wohl nur kurz in der Scheune aufgehalten, vermutet Werner Tepasse. „Im Haus waren sie nicht.“ Eine dort beschäftigte Magd und die Nachbarn, so wird vermutet, sollten von der Fluchthilfe nichts mitbekommen. Der Plan ging auf: Helene und Eva gelangten mit Unterstützung der Familie Tepasse unbemerkt über die Grenze.
Exil in unsicherer Zeit
In den Niederlanden versuchten die Hirsch-Geschwister, ein neues Leben zu beginnen. Wie das Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr recherchierte, arbeitete die ältere Schwester zunächst als Dienstmädchen. Doch mit dem deutschen Überfall auf die Niederlande im Mai 1940 endete auch dort die Hoffnung auf Sicherheit. Die deutsche Besatzungsmacht begann, jüdische Menschen zu registrieren, auszugrenzen und zu verfolgen. Im Sommer 1942 starteten die Massendeportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Vom Durchgangslager Westerbork, dem zentralen Sammellager für Juden in den Niederlanden, fuhren regelmäßig Züge nach Auschwitz, Sobibor oder Theresienstadt. In einen der ersten Waggons zwang die SS auch Helene und Eva Hirsch.
Von Westerbork nach Auschwitz
„Im Juli 1942 wurden beide von Westerbork nach Auschwitz deportiert“, heißt es in einer Stolperstein-Biografie des Mülheimer Stadtarchivs. Am 30. September schließlich ermordeten die Nazis die inzwischen 17-jährige Eva und vermutlich auch die 20-jährige Helene Hirsch – nach offenbar qualvollen Wochen der Ausbeutung. „Nach verlässlichen Aussagen hatten beide Schwestern vor ihrem Tod noch im Bordell außerhalb des Lagers für Offiziere und Aufseher zur Verfügung zu stehen müssen“, berichten die Archivare.
Die Barloer Fluchthelfer konnten die Katastrophe in diesem Fall letztlich nicht verhindern. Aber ihre Hilfe zeigt, dass es in den dunkelsten Stunden des Landes auch Menschlichkeit und Zivilcourage gab – in einer Zeit, in der beides lebensgefährlich war. Die Bauernfamilie Tepasse gehörte zu jenen, die nicht wegsahen. Ihre Geschichte blieb jahrzehntelang verborgen – jetzt bekommt sie eine Stimme.

Niederländer erzählen sieben Geschichten
Das Schicksal der Geschwister Hirsch ist nur eine von sieben Fluchtgeschichten, die am Sonntag, 27. April, an sechs verschiedenen Orten im Grenzgebiet erzählt werden. Die Vorträge unter dem Titel „Offene jüdische Häuser“ werden von der Stiftung Synagoge Winterswijk zu verschiedenen Zeiten angeboten. Die erste Geschichte wird um 11 Uhr, die letzte mit musikalischer Begleitung um 16 Uhr in der Synagoge in der Spoortstraat in Winterswijk erzählt. Der Eintritt ist frei, um Spenden wird gebeten.
Für die Geschichte über Helene und Eva Hirsch auf dem Bauernhof Tepasse in Barlo ist wegen der begrenzten Plätze eine Anmeldung erforderlich, die – sofern noch nicht ausgebucht – per E-Mail an info@synagogewinterswijk.nl möglich ist. Die Vorträge beginnen um 11 und 14 Uhr auf Niederländisch und um 12.30 Uhr auf Deutsch.
Informationen und Zeiten zu den anderen Vorträgen, darunter ein weiterer in deutscher Sprache, finden Interessierte unter www.synagogewinterswijk.nl.