Deutschlandweit rund 100.000 Traktoren auf Autobahnen und öffentlichen Plätzen hätten am Montag „ein deutliches Zeichen in Richtung Bundesregierung“ gesetzt. So feierte Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverbandes, den Auftakt der Protestwoche. Manche Landwirte rühmten sich zudem dafür, das Land lahmzulegen und in der „Bild“ ließ sich vorab ein Staatsschützer gar mit der Rede vom „womöglich größten Protest der Nachkriegsgeschichte“ zitieren.
Die Sache hat nur einen Haken: Geht man davon aus, dass bei den Demos auf jeden Traktor nicht viel mehr als ein Landwirt kommt, ist der Protest sicher nicht einmalig in der Nachkriegsgeschichte. In den Sozialen Medien verwiesen einige darauf, dass die Klimabewegung zu ihren Hochzeiten die deutschlandweite Teilnehmerzahl der Bauernproteste wöchentlich überboten habe.
Wo auch immer die genaue Zahl der Landwirte liegt, die derzeit an den Demonstrationen teilnehmen – die im Vergleich zur Klimabewegung kleinere Gruppe hat eine politische Schlagkraft, von der andere Protestgruppen nur träumen dürften. Und auch gemessen an der Wirtschaftskraft des Agrarsektors kommt den Bauern ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit zu: Sie tragen nämlich nur rund ein Prozent zur deutschen Bruttowertschöpfung bei. Doch woher kommt dann die Macht dieser Berufsgruppe?
Erste Intervention im Kaiserreich
Begründet ist das unter anderem in der Geschichte: Landwirte haben seit jeher eine lebensnotwendige Aufgabe – die Bevölkerung zu ernähren. Doch lange waren die Bauern abhängig von Großgrundbesitzern. Erst als sie sich im 18. und 19. Jahrhundert von ihren Feudalherren lösen konnten, begannen sie sich langsam zu organisieren.
Ende des 19. Jahrhunderts begann dann im Kaiserreich eine Diskussion um Schutzzölle: „In Nordamerika und Russland konnte günstig Getreide produziert werden und auch der Transport wurde immer einfacher. Die Landwirtschaft in Deutschland konnte damit nicht mehr mithalten“, erklärt Gunter Mahlerwein im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Der Historiker an der Universität des Saarlandes und Vorsitzende der Gesellschaft für Agrargeschichte beschreibt die Folgen: „Die dann eingeführten Zölle waren natürlich ein Vorteil für die Bauern, aber dafür konnte sich die Industriegesellschaft nicht mehr so günstig ernähren – dieser Zusammenhang prägt die Diskussion bis heute.“ Nach Bismarck sei der Schutz der heimischen Produkte deshalb wieder zurückgefahren worden, was Unmut bei den Landwirten ausgelöst habe. Für Mahlerwein „der Beginn ihrer Interventionspolitik“.
Ein Ergebnis dieser Interventionen durch Bauern war 1922 ein Gesetz, das mehr als 100 Jahre lang im Grundsatz nicht angetastet wurde: Die Befreiung von der KFZ-Steuer für Landwirtschaftsmaschinen. Ursprünglich wollte man damit die Technisierung im Agrarsektor fördern, Pferde und Ochsen waren zu unproduktiv.
Später in der Weimarer Republik geriet der Agrarsektor wieder in eine – diesmal weltweite – Krise durch Preisverfall. „Daraus sind sehr radikalisierte bäuerliche Gruppen entstanden, die dann auch vereinzelt Bombenattentate verübt haben. Dieser Unmut war Nährboden für die Landvolkbewegung und Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten“ erzählt der Historiker. Allerdings hätten die Landwirte in der realen Politik der Nazis nur wenig Beachtung gefunden, die Kriegswirtschaft sei ihnen wichtiger gewesen.
Lobbyisten mit Sitzen in den Parlamenten
Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1948, gründete sich dann schließlich das Machtzentrum der Landwirte-Lobby: der Deutsche Bauernverband. Aktuell sind dort nach eigenen Angaben rund 90 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe organisiert. Zu dem Einfluss des Verbandes forscht Guido Nischwitz am Institut Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen. Das Erfolgsgeheimnis der Organisation beschreibt er im Gespräch mit dem RND so: „Dem Bauernverband gelingt es, seine Funktionäre von der Landkreisebene über den Bund bis zur EU in die Parlamente wählen zu lassen.“
Ähnlich wie bei der Zahl der Traktoren auf Demos ist auch die Zahl der Landwirte unter den Bundestagsabgeordneten zunächst nicht besonders beeindruckend. In der laufenden Legislaturperiode sitzen acht Bauern im Parlament, in den vergangenen beiden Jahrzehnten waren es meist zwischen 10 und 20. Anwälte, Ärzte und Bankkaufleute sind jeweils deutlich stärker vertreten. Doch die Bauern haben eine Strategie: „Sie versuchen zentrale Positionen in den jeweiligen Agrar- und Ernährungsausschüssen zu besetzen“, erklärt Nischwitz.
Beispiel Johannes Röring: Der Schweinzüchter war von 2005 bis 2021 für die CDU Mitglied des Bundestags. Dort saß er unter anderem als Obmann im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft, außerdem engagierte er sich im Umweltausschuss – also dort wo es regelmäßig um Tierschutz und Düngemittel geht. Zeitglich war Röring Präsident des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbands und hatte einflussreiche Positionen bei einem Agrarhändler sowie einer Versicherung.
Der Präsident hat eine volle Visitenkarte
Laut Nischwitz kein Einzelfall: „Der Bauernverband ist voller Vielfachfunktionäre. Fast zwangsläufig kommt es dabei zu Interessenskonflikten.“ Im Fall Röring habe es selbst unter den Bauern zahlreiche Kritiker gegeben die darauf gedrängt hätten, er müsse sich für eine Seite – Verbandspräsident oder Abgeordneter – entscheiden. Auch Joachim Rukwied, der aktuelle Präsident des Deutschen Bauernverbandes, muss eine ziemlich volle Visitenkarte haben: Er ist Funktionär weiterer Verbände, sitzt im Rundfunkrat des SWR und ist in Aufsichtsräten großer Konzerne.
„Solche Personen unterliegen Interessenkonflikten, wie beispielsweise den Gewinnabsichten von großen Agrarhandelsunternehmen, die nicht unbedingt den Interessen der kleineren Bauern entsprechen“, glaubt Nischwitz. „Sie fallen oft unter den Tisch, der Verband fokussiert sich stark auf eine Weltmarkt- und Exportorientierung der landwirtschaftlichen Erzeugung. In den vergangenen Tagen hat sich die Ausrichtung bei den Bauernprotesten plötzlich verändert. Es geht jetzt wieder mehr um die Zukunft der ländlichen Räume und um den Beitrag von Familienbetrieben zum Gemeinwohl.“ Mit dieser Rhetorik könne man besser mobilisieren und bei der Bevölkerung um Unterstützung bitten.
Politisch getragen werden die Proteste von den Unionsparteien. Die Verbindungen zwischen Landwirtschaft und konservativen politischen Positionen sind eng. Bei der Bundestagswahl 2021 gaben laut Forschungsgruppe Wahlen 45 Prozent der Landwirte der Union ihre Stimme – alle anderen Parteien lagen weit abgeschlagen. In CDU und CSU dankt man. Die ehemalige Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) soll einmal zu einem Abgeordneten gesagt haben: „Ich tue alles, was der Bauernverband will.“
Wie groß ist der Einfluss auf die Ampel?
Der aktuelle Verbandspräsident Rukwied ist – kaum überraschend – Mitglied der CDU. In der Bundesregierung kann er nun aber nicht mehr mit seinesgleichen sprechen. Die Parteien der Ampelkoalition sind weit weniger mit den Landwirten verbunden. „Möglicherweise ist das auch ein Grund, warum die Proteste gegen die Pläne der Regierung so öffentlichkeitswirksam ausgetragen werden. Mit einer CDU/CSU-geführten Regierung hätte man vielleicht eher in kleiner Gesprächsrunde seinen Unmut bekundet und verhandelt“, vermutet Nischwitz. Historiker Mahlerwein hingegen hält den Einfluss des Bauernverbandes auf die Politik nach wie vor für groß: „Zwar wechselt die Führung des Landwirtschaftsministeriums. Aber in der Verwaltung sitzen dieselben Leute, die gute Kontakte zur Landwirtschaft pflegen.“
Beide Wissenschaftler sind sich einig, dass der Einfluss der Lobby auf die Politik negative Seiten haben kann. Nischwitz vermerkte 2019 in einer Studie für den Naturschutzbund (NABU): „Es steht der Vorwurf im Raum, dass viele ambitionierte Bemühungen um Reformen und Anpassungen in der Agrar- und Umweltpolitik sowie in der landwirtschaftlichen Praxis systematisch von Interessenvertretern und -vertreterinnen verhindert oder deutlich verwässert werden.“ Im Ergebnis stünden Gesetze häufig im Widerspruch zu ursprünglichen Ansätzen und zu wissenschaftlichen Empfehlungen.
Das politische Handeln orientiere sich demnach in vielen Fällen daran, Belastungen für die Landwirtschaft zu vermeiden. „Der Druck, etwas zu verändern, ist aber da. Deshalb fällt diese jahrelange Abwehrhaltung des Verbands bei vielen Herausforderungen den Bauern jetzt auf die Füße“, erklärt Nischwitz im Gespräch mit dem RND. Deshalb müsse der Bauernverband auch aufpassen, dass die Proteste von Rechtsextremen gekapert würden. Ernsthaft in Gefahr sieht der Wissenschaftler den Bauernverband aber nicht, dafür sei er traditionell zu professionell organisiert: „Er wird für seine Kampagnen- und Durchsetzungsfähigkeit bewundert und gefürchtet.“