Zwei Behandlungsfehler haben das Leben von Christiane Elsner dramatische Wendungen nehmen lassen. 1994 stirbt ihre zweite Tochter Roxanne nur wenige Tage nach der Geburt in ihren Armen. „Der Oberarzt stand weinend daneben und sagte immer wieder: ,Das hätte nicht sein müssen‘,“ erzählt Christiane Elsner. Die Spezialisten der Dattelner Kinderklinik können das kleine Mädchen nicht retten - dabei hätten sie die Chance gehabt, wenn die Mutter schon eher zu ihnen verlegt worden wäre.
Drei Monate vor dem Geburtstermin hat Christiane Elsner einen Blasensprung, kommt in ein Marler Krankenhaus und muss dort für die nächsten Wochen ruhen. Bevor sie entlassen werden soll, wird sie noch per Taxi zu einem Sicherheitsabschlusscheck nach Datteln geschickt. Auf dem Weg platzt die Fruchtblase. Roxanne kommt zur Welt, alle sind überglücklich. Nur wenige Stunden nach der Geburt wird deutlich, dass sie in all den Wochen, in denen ihre Mutter im Krankenhaus lag, nicht fachgerecht versorgt wurde. „Sie starb in meinen Armen“, sagt Christiane Elsner mit gebrochener Stimme.
„Früher war ich nicht so stark wie heute“
Der Verlust hat die jungen Eltern - sie waren erst Anfang 20 - übermannt. „Wir nahmen es hin, hatten keine Kraft, etwas zu unternehmen. Ich war nicht so stark wie heute. Jeder trauerte für sich“, erinnert sich Christiane Elsner an die schwere Zeit. Irgendwann kehrte so etwas wie Alltag ein, zwei weitere Kinder kamen zur Welt. „Das tröstet aber nicht über den Verlust des anderen Kindes hinweg. Ich denke noch heute viel an meine Tochter und schaue Fotos an“, betont Christiane Elsner.
2011 wird das Leben wieder auf den Kopf gestellt. Im Urlaub in Niedersachsen fällt Christiane Elsner „schusselig“ von der Leiter, bricht sich links die Schulter und den Arm gleich vierfach. In einer nahe gelegenen orthopädischen Klinik nimmt das Unheil seinen Lauf. Erst nach drei Tagen wird sie operiert („Für die OP mussten erst einmal Teile bestellt und geliefert werden“). Sie kann sich auch Tage danach vor Schmerzen kaum halten und bekommt schlecht Luft. Erst jetzt wird festgestellt, dass auch sämtliche Rippen der betroffenen Seite gebrochen sind. „Was ich da für ein Glück hatte, dass sich nichts Richtung Lunge verschoben hat...“, meint Christiane Elsner kopfschüttelnd.
Behandlungsfehler: Bochumer Ärzte sprechen das auch öffentlich aus
Zurück in Marl schickt ihr Hausarzt Dr. Keßel sie zum Röntgen. Die Bilder zeigen: Die OP ist Pfusch gewesen. Die Schulter wurde nicht eingekugelt, die Brüche wurden unfachmännisch versorgt. Ein befreundeter Facharzt des Hausarztes bestätigt das - im Bochumer Bergmannsheil folgt eine weitere OP. Nerven und Sehnen sind bereits beschädigt, der Arm ist gelähmt. Da sie Linkshänderin ist, ist sie aufgeschmissen, kann nichts mehr allein: die Kinder nicht versorgen, nicht arbeiten. Trauer, Wut und Schmerz halten sie fest im Griff. Erst als ihr Mann das Wort Trennung in den Raum stellt, legt sich ein Schalter um, Christiane Elsner mobilisiert ungeahnte Kräfte und setzt sich zur Wehr.

Unterstützung bekommt sie von den behandelnden Ärzten. „Sie trauten sich, nicht nur hinter vor gehaltener Hand von einem groben Behandlungsfehler zu sprechen“, unterstreicht Christiane Elsner. Sie telefoniert sich durch, von Ärztekammer zu Ärztekammer, denn zuständig war Hannover, weil sie in Niedersachsen behandelt wurde. Wenn die 53-Jährige erzählt, bleibt sie diskret. So wenig wie sie das Marler Krankenhaus nennen will, in dem sich ihr Schicksal erstmals wendete, nennt sie im zweiten Fall Namen und Städte. Weil das Krankenhaus und der Arzt zustimmen, kann sie bei der Ärztekammer ein Schiedsverfahren erwirken, das am Ende nach acht Monaten wirklich belegt, dass sie einem groben Behandlungsfehler unterlegen ist. Die Freude währt aber nur kurz, denn die Versicherung des Arztes weigert sich, zu zahlen. Da sie eine Rechtsschutzversicherung hat, geht sie vor Gericht, schafft es, das Verfahren nach Essen zu holen („Hier war die Chance größer, dass der Arzt keine Kontakte hatte“).
Eine Entschuldigung gibt es auch im Prozess nicht
Was sie im Prozess erlebt, lässt selbst dem Richter den Kragen platzen. Der Arzt lacht vor sich hin, hört gar nicht mehr auf. Eine Entschuldigung hört Christiane Elsner nie. Am Ende gewinnt sie. Was sie an Geld bekommt, behält sie auch für sich: „In Amerika wäre ich Millionärin geworden, da ist das System einfach anders. Aber das war für mich eine Seelenspritze.“ Die braucht sie auch dringend, denn der Heilungsprozess ist langwierig. Vier Jahre lang arbeitet sie in Rehas und Therapien daran, die Lähmung zu besiegen.

Dass ihr vom Arbeitgeber, einem Discounter, schon relativ früh fristlos gekündigt wird und Kollegen sie als Krüppel bezeichnen, erlebt sie in all der Zeit auch. Sie schaltet einen Anwalt ein, der erwirkt, dass die Kündigung rückgängig gemacht wird und ausstehende Gehälter gezahlt werden. Aber arbeiten möchte Christiane Elsner nicht mehr für den Discounter. Persönlich ist sie von zwei Vorgesetzten so enttäuscht, dass sie sich bis in die Konzernzentrale durchtelefoniert. „Es gab dann tatsächlich einen Manager, der mir, einer kleinen Verkäuferin, zugehört hat. Er wollte mich sogar zum Bleiben überreden“, erzählt sie. Wenige Tage später hört sie, dass die beiden Vorgesetzten versetzt wurden. „Jeder musste eine Stunde länger zur Arbeit fahren“, sagt sie und lächelt still.
Es fehlt jemand zum Reden
Und obwohl sie so vieles selbst regeln konnte, fehlt ihr jemand zum Reden. Jemand, der ähnliches erlebt hat. Christiane Elsner macht sich auf die Suche nach einer Selbsthilfegruppe für Menschen, die Opfer von Behandlungsfehlern wurden. Ergebnis ihrer Recherche: deutschlandweit gab es keine. Christiane Elsner nutzt die Hilfe von Ulrich Dittmar vom Netzwerk Bürgerengagement und gründet am 10. Oktober 2013 die Selbsthilfegruppe für Medizingeschädigte und Opfer von Behandlungsfehlern.

„Einen Raum zu finden, war schwierig, niemand wollte uns haben“, blickt sie zurück. Im Hans-Katzer-Haus kommen sie unter. Noch bevor die Gruppe sich etabliert, eilt ihr der Ruf voraus, sich mit Ärzten anlegen zu wollen. „Am Tag der Gesundheit wollte niemand mit uns auf einer Etage stehen. Ich bin dann herum gegangen, habe mich bei den Ärzten vorgestellt. Später haben wir bestens zusammen gearbeitet. Auch mit beiden Marler Krankenhäusern“, schildert Christiane Elsner.
Vielen Betroffenen zu Schmerzensgeld verholfen
Das Interesse an der Gruppe ist groß. Es spricht sich herum, dass Betroffene und Angehörige hier Raum zum Reden haben, aber auch Hilfestellungen bekommen. Kontakt zur Ärztekammer, zu Rechtsanwälten, zu Beratungsangeboten - Christiane Elsner und eine Handvoll Mitglieder helfen vielen, vor Gericht Recht und ein „kleines“ Schmerzensgeld zu bekommen.
Im letzten Jahr hat sie begonnen, einen Nachfolger für sich zu suchen. Gefunden hat sich niemand. Christiane Elsner hat die Gruppe jetzt aufgelöst. Seit einigen Jahren engagiert sie sich zudem für die CDU in der Kommunalpolitik. Auch damit hört sie auf. Jetzt will sie mehr Zeit mit ihrem Mann verbringen und das gute Gefühl genießen, das sie seit acht Jahren nach jedem Arbeitstag als Wellnesstherapeutin hat: „Da bringe ich andere zum Strahlen.“ Warum all die Tragik in ihrem Leben nie die Oberhand gewinnen konnte, erklärt sie sich so: „Mir hat immer geholfen, meinen Frieden mit mir selbst zu finden, Freude am Alltag und die Füße auf dem Boden zu haben.“
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