Kinderarzt über jahrelang isoliertes Kind in Attendorn Palette an Problemen möglich

Kinderarzt über jahrelang isoliertes Kind in Attendorn: Palette an Problemen möglich
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Bei dem mutmaßlich fast sein gesamtes Leben lang eingesperrten achtjährigen Mädchen aus dem Sauerland ist nach Einschätzung eines Kinderarztes mit gesundheitlichen Folgen zu rechnen. „Da ist eine große Palette an körperlichen und psychiatrischen Erkrankungen oder Problemen möglich“, sagte Kinder- und Jugendarzt Axel Gerschlauer der Deutschen Presse-Agentur.

Es müsse ein genaues Augenmerk auf Sprachentwicklung, Sozialverhalten und die motorische Entwicklung gelegt werden. „Wie ist sie ernährt worden, wenn sie wirklich nur im Haus war und kein Sonnenlicht abbekommen hat“, sagte Gerschlauer, Landespressesprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in NRW.

„Wie sind die Knochen entwickelt, weil man braucht Sonnenlicht für eine gesunde Knochenentwicklung.“ Sonst könne es zu schwachen Knochen oder gar einer Knochenfehlbildung kommen, die nicht ohne Weiteres rückgängig gemacht werden könne.

Gerschlauer fügte auch hinzu, dass eine seriöse Aussage über den körperlichen und psychischen Zustand des Kindes ohne Untersuchung aus der Ferne nicht möglich sei. „Wir wissen nicht, wie die individuelle Reaktion dieses Kindes auf diese unnatürliche Situation aussieht.“

Kinder brauchen den Kontakt zu anderen Kindern

Das Mädchen soll in einem Haus der Großeltern in Attendorn fast sieben Jahre lang festgehalten worden sein und nur Kontakt zu seiner Mutter und den Großeltern gehabt haben. Gegen die drei ermittelt die Staatsanwaltschaft in Siegen wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen.

Laut Staatsanwaltschaft war es dem Mädchen nicht ermöglicht worden, „am Leben teilzunehmen“ - nicht an Kita, Schule oder am Spiel mit anderen Kindern. Hinweise auf körperliche Misshandlung oder Unterernährung gab es zunächst nicht. „Zum gesunden Aufwachsen brauchen Kinder den Kontakt zu anderen Kindern, das ist unbestritten“, sagte Gerschlauer.

Wer das in Frage stellen sollte, sei durch die Corona-Pandemie eines Besseren belehrt worden. „Da haben wir schon gesehen, wie viel Zunahme an psychologischen Problemen, an psychiatrischen Erkrankungen nur so ein Schul-Lockdown gemacht hat und wie unglaublich wichtig das in dieser Entwicklungszeit ist“, sagte der Kinder- und Jugendarzt.

Beeinträchtigungen keine lebenslangen Diagnosen

Auch der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Ralph Schliewenz hob die Bedeutung des Kontakts unter Gleichaltrigen hervor. „Sich zu messen, sich zu vergleichen, quasi auf Augenhöhe zu wachsen“, sagte er, sei sehr wichtig für die Entwicklung und das Vorankommen unter Gleichaltrigen.

„Ich kann mir aber nicht erlauben zu beurteilen, auf welchem Entwicklungsstand dieses Kind sich gerade befindet.“ Es sei nicht ausgeschlossen, dass es einen Entwicklungsbereich gebe, in dem es völlig angemessen entwickelt sei. „Ich gehe aber davon aus, dass es in seiner Entwicklung in verschiedenen Facetten beeinträchtigt sein wird.“

Als Beispiel für ein mögliches Problem nannte er emotionale Vernachlässigung. Sie wirke sich so aus, dass betroffene Kinder keine angemessene Form von Emotionsregulation vermittelt bekommen. „Und Gefühle, die nicht reguliert werden können, die machen uns aggressiv.“ Aggressivität wiederum, mit der man nicht gelernt habe umzugehen, könne schnell in Gewalt umschlagen - gegen andere und gegen sich selbst.

Der Psychologe ist allerdings optimistisch: Solche Beeinträchtigungen seien keine lebenslangen Diagnosen, „da gibt es auch gute therapeutische Ansätze, Dinge zu verändern“, sagte er. Laut Jugendamt ist das Kind seit dem 23. September bei einer Pflegefamilie untergebracht.

dpa

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