Haben sich die Göttinnen verirrt? Aus den Theatersesseln im Essener Grillo-Theater erheben sich bei der Premiere am Samstag Hân Nguyên und Lene Dax und streiten mit Eintrittskarten in der Hand, dass sie doch zu „Faust“ wollten – nun ist es eben Sezuan.
Sie sind auf der Suche nach guten Menschen, die im kapitalistischen System ein glückliches Leben führen. Finden sie sie, dann kann alles so bleiben, wie es ist.
Supermarkt Sezuan
Im Laufe der gut zweieinhalbstündigen Inszenierung von Brechts „Der gute Mensch von Sezuan – Die Ware Liebe“ werden die beiden Göttinnen noch so manchen Zwist austragen. Amüsant. Und auf Humor ist die ganze Inszenierung von Sapir Heller angelegt.
Sezuan ist ein riesiger Supermarkt auf drei Etagen (Videos mit gefüllten Lebensmittel-Regalen werden auf die komplette Bühnenwand projiziert) und die Figuren sind als Waren verkleidet – nur die Prostituierte Shen Te und der Wasserverkäufer Wang stecken in normaler Kleidung. In einer Welt, in der alles zur Ware wird, Beziehungen auf Verwertbarkeit für das eigene Leben abgeklopft werden, selbst Liebe käuflich ist, scheint die Ausstattungsidee von Viktor Reim treffend zu sein.

Da kommt der Schreiner (Samantha Ritzinger) in einer Haferflockenpackung daher, steckt Philipp Noack als Frau in einem Kartoffelnetz und als arbeitsloser Flieger Yang Sun in einem Bonbonspender. Die Großfamilie ist eine Knabberbox, für die einzelnen Familienmitglieder öffnet Christopher Heisler die unterschiedlichen Fenster der Verpackung.
Ines Krug ist als Witwe Shin mit vielen Milka-lila Luftballons bestückt, Jan Pröhl als Hausbesitzer ist ein riesiger Brokkoli und als Barbier ein Käse-Dreieck, von dem sich Shen Te eine Scheibe abschneidet.
Kasperl-Theater für Große
Doch der witzige Effekt dieses Einfalls verpufft ziemlich schnell, und die Kostüme begrenzen die Spielmöglichkeit der Schauspieler, die bis auf die Göttinnen mehrere Rollen übernehmen. In den Supermarktgängen klappen Türen auf, und die Mimen erscheinen, schlängeln sich angekettet über die schmalen Galerien. So bekommt die Theateraufführung etwas von einem Kasperl-Theater für Große.
Eine Nummer mit Handpuppe spielt die gute Shen Te mit ihrem Turnschuh als Baby - netter Klamauk. Sümeryra Yilmaz gibt diese Prostituierte, die sich mit dem Startkapital der Göttinnen einen Tabakladen zulegt. Doch ihre Mitmenschen nutzen sie aus, selbst der Flieger, in den sie sich verliebt. Mit ein paar Kleider-Asseccoires in Fleisch-Optik verwandelt sie sich in ihren hartherzigen Vetter Schui Ta, der bestens mit dem Kapitalismus zurechtkommt. Nur wenn sie andere ausbeutet, kann sie finanziell überleben.
Göttinnen entschweben
Am Ende bleibt Shen Te verzweifelt, zerrissen zurück. Die beiden Göttinnen leisten sich einen letzten Zwist und entschweben in den Bühnenhimmel.
Viel Applaus im nicht ausverkauften Theatersaal.
Termine: 27. 9., 7. / 27. 10.2023; Karten: Tel.(0201) 812 22 00.
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