Gelbe Blätter. Kahle Stämme. Tote Baumstümpfe. Fünf Hubschrauber donnern im Juli 1983 nordwärts über die angeschlagenen Wipfel des Fichtelgebirges. Beamte der Europäischen Gemeinschaft (EG) sind auf Besichtigungstour. Das Bonner Bundesinnenministerium hat sie zum Sightseeing eingeladen.
Doch nicht der nahe stacheldrahtbewehrte Eiserne Vorhang rechts unten im Blick interessiert die Fluggäste. Schockiert nehmen sie den ganz anderen Schrecken zur Kenntnis: Unter ihnen stirbt der deutsche Wald. Als die Gruppe in Grafenau landet, empfängt sie eine Warntafel: „Reh- und Hirschinnereien bitte nicht mehr essen“. Auch das noch. Die begleitenden Journalisten berichten am nächsten Morgen wie von einem Tatort: „Was den Wald vergiftet hat, ist in die Nahrungskette des Menschen eingedrungen“.
Die Szene ist Teil der bundesdeutschen Zeitgeschichte. Sie wirft einen Verdacht auf: Unterlag zwischen 1979 und 1988 eine komplette, demokratisch organisierte und pluralistische Gesellschaft einem Herdenirrtum? Fakt ist: Sie befiel die Angst vor dem flächendeckenden Verschwinden des Waldes, das der damalige Bundestagsabgeordnete Freimut Duve als drohendes „ökologisches Hiroshima“ umschrieb und der Umweltaktivist Hubert Weinzierl so einschätzte: „Das Sterben der Wälder wird unsere Länder stärker verändern als der Zweite Weltkrieg“. Weder im Parlament noch in seiner Wählerschaft machten sich Zweifel an solch brutalen Prognosen breit. Erst fünf Jahre später schälte sich heraus: Die Katastrophe gibt es vielleicht so gar nicht.
Was kann die kollektive Fehleinschätzung erklären? Warum blieb Expertenstreit um einen dramatischen Kurswechsel der Umweltpolitik aus? Warum sagte keiner, ich sehe es anders? Aber auch: Könnte es sein, dass sich zweifellos eine Hysterie breit machte, dass diese zweifellos Folgen hatte, dass die Folgen jedoch dem Wald, der Umwelt und den Menschen ziemlich geholfen haben? War alles gut?
Die Angst vor dem sauren Regen
Eine Rückblende. Der Wechsel der 1970er- zu den 1980er-Jahren belastete die Psyche des Landes. Inflation, Arbeitslosigkeit, RAF-Terror und vor dem Hintergrund der Nachrüstung die Angst vor einem Atomkrieg beherrschen Schlagzeilen. In dieser Lage findet der Bodenkundler Prof. Bernhard Ulrich aus Göttingen am Berg „Große Blöße“ im Höhenzug Solling bestätigt: Tannen und auch Laubbäume erkranken. Kronen sind licht geworden. Er ahnt Zusammenhänge: Schwefeldioxid aus Industrieschornsteinen und Stickstoffverbindungen aus dem Kfz-Auspuff werden in Verbindung mit Wasser zur Säure, die Böden und Stämme angreift. Blätter verfärben vorzeitig, Baumnadeln fallen aus. Das erklärt die Schäden an den unterschiedlichsten Baumarten. Vor diesem „acid rain“ hatten schon britische Wissenschaftler im 19. Jahrhundert gewarnt. Im Ruhrgebiet gab es um 1930 einen ersten Waldalarm. Dazu die Autoabgase. Der Saure Regen muss Deutschland in der ganzen Breite erwischt haben, schlussfolgert Ulrich. Sind seine privaten Fotos, die vor fünf Jahren gesunden Wuchs zeigten und neuerdings Baumleichen, nicht Beleg genug?
1979 schreibt der Wissenschaftler seine Studie auf. Ulrich und der bayerische Kollege Peter Schütt starten eine Kampagne. In Fachkonferenzen werden Thesen der Wissenschaftler herumgereicht. Zunächst streitig, wie in der Wissenschaft üblich: Waren da nicht schädigende Pilze im Boden, eine ungewöhnliche Dürre Mitte der 1970er Jahre und folgende Kälteeinbrüche, auch „Rauchschäden“ durch nahe Industriebetriebe? All die verschiedenen Ursachen, die immer wieder den Wald krank machten, der aber auch immer wieder gesundete? Doch Professor Schütt sagt, er sehe „Tote“, wenn er durch den Wald zieht. Widerspruch? Bleibt aus.
Die Autoren Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff haben 2006 in ihrem Buch „Gerüchte machen Geschichte“ die Entstehung der Waldsterben-Erzählung zwei Jahrzehnte zuvor nachgearbeitet. Wie 1979 das durch die Fachdebatten aufmerksame Umweltbundesamt Bernhard Ulrich mit einem Bericht beauftragte. Wie er 1980 eine Prognose wagte: „Die ersten großen Wälder werden schon in den nächsten fünf Jahren sterben. Sie sind nicht mehr zu retten“. Auch, wie 1981 die FDP durch eine Anfrage erstmals den Bundestag mit dem Waldsterben konfrontierte, eine Arbeitsgruppe „Waldschäden durch Luftverunreinigung“ eingesetzt wurde und das alles im großen Knall mündete: Am 16. November 1981 erscheint der „Spiegel“ mit düsterem Titelbild: „Saurer Regen über Deutschland. Der Wald stirbt“.
Jetzt hält nichts mehr Deutschlands größten Gefühlsausbruch auf. Täglich zeigen die Medien ruinierten Forst. Die Regionen melden schnell Erschreckendes: 40 Prozent der Bestände im Schwarzwald seien hin. Ob Harz, Teutoburger Wald, Spessart oder Alpenvorland - die Zukunft wird in diesem Land eine ohne Grün. 1990 werden die Nadelwälder verschwunden, 1994 alle Buchen tot sein. Die Westdeutschen lieben nicht nur die Romantik, sondern auch den Weihnachtsbaum. Jeder zweite erwartet das komplette Aus, als dann neue Brennpunkte der Schwefelsäure-Attacke auftauchen. Bauwerke sind betroffen, auch der Mensch. „Karoline“, das Heizkraftwerk in Hamburg, ruiniert gerade seinen Nachbarn, den Fernsehturm „Telemichel“. Kölns Dom leidet. Saurer Regen halbiert das Leben der Betonbrücken, warnt der Bochumer Klimatologe Wilhelm Kuttler. Der „Spiegel“ sieht Babys erkranken und im Bundestag wird nach „Todesfällen“ unter den Bürgern gefragt.

Es gibt nur noch verängstigte Wanderer
Es gibt keine Parteien mehr, sondern nur noch verängstigte Wanderer. Jung und Alt, Links und Rechts, Zeitungen und TV-Sender, Volk und Politik lassen sich bei der als Gemeinschaftswerk empfundenen Waldschadensbekämpfung nicht spalten. Es entsteht eine Einheitsfront, eine ungewöhnliche Ausnahme in der Geschichte der politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit. „Bild“ titelt für den großen Aufbruch: „Wir pflanzen eine Million neue Bäume“. Und die neue Waldfreunde-Partei, die sich „Die Grünen“ nennt? Wandert bei der Wahl 1983 mit 5,6 Prozent in den Bundestag.
Tiefe Ängste befallen vor allem das Urlauberland Bayern. Als der neue Kanzler Helmut Kohl (CDU) nach dem Regierungswechsel das Waldsterben in seiner Regierungserklärung zum zentralen Thema macht („Die Schäden sind alarmierend“), reißt die jetzt regierungsbeteiligte CSU das Heft an sich. Ihr Star: Friedrich Zimmermann. Der für den Umweltschutz zuständige Innenminister kippt die SPD-Politik des Baus hoher Schornsteine. Die habe nur den Dreck weiter verteilt. Stattdessen zaubert er einschneidende Gesetze auf den Tisch. Sie heißen Technische Anleitung (TA) Luft oder auch Großfeuerungsanlagenverordnung. Zimmermann zwingt Manager zum Einbau von Filtern in ihre Produktionen, schreibt Fahrzeughaltern den Autokauf mit Katalysator vor und das Tanken bleifreien Benzins. Im Parlament passiert all das ohne großen Einwand. Auch andere europäische Staaten machen mit - obwohl sie die deutsche Aufregung wegen „Le Waldsterben“ eher mit ungläubigem Staunen nachvollziehen.

Dass er in Wirklichkeit ein Problem hat, überspielt Zimmermann gekonnt. Jahre nach Beginn der Waldsterben-Diskussion kann die Regierung immer noch nur einen provisorischen Bericht dazu vorlegen. Keinen, der aussagt, wie groß das Sterben der Bäume wirklich ausfällt. Keinen, der belegt, wie es zu all dem gekommen sein soll. Dazu braucht es Vergleiche und Beweise. Daten aber fehlen für die Zeit vor 1982. Es bleibt bei Fernglas-Beobachtungen und „Schätzungen“. Dann, 1986, meldet Bonn erstmals einen Rückgang der geschädigten Flächen: Minus 1,4 Prozent. Die Kehrtwende.
Wie kann das sein, ohne dass die seit 1985 gültige Rauchgasentschwefelung schon wirken konnte? Waren die Warnungen voreilig? Gibt es das Waldsterben gar nicht? Vermutungen dazu wechseln in Folge. Der niedersächsische Prof. Bernhard Ulrich, der auf dem Berg „Große Blöße“ die Angst vor dem Waldsterben losgetreten hatte, räumt reumütig ein: „Es war ein großer Fehler, solche Spekulationen als wissenschaftliche Erkenntnis zu verkaufen“.
Allerdings hat Ulrich zum Beispiel gegenüber der „taz“ 2015 auch gesagt, er selbst sei „immer auf dem Boden der Fakten geblieben.“ Dass es nicht zum großen Waldsterben gekommen sei, liege auch daran, dass sich etwas getan habe: „Die Politik hat erkannt, dass etwas falsch läuft und rechtzeitig Gegenmaßnahmen umgesetzt. Sonst wären große Teile des Waldes schwer geschädigt worden“, bilanzierte er 2015 gegenüber „Spiegel online“.
Klar aber sei, so äußerte sich Ulrich mehrfach, man habe viel zu lange mit der Entwarnung gewartet.
Weitgehende Übereinstimmung gibt es bald bei der Erklärung für die Lage: Schwefeldioxid hat schon immer die Natur geschädigt. Aber wie den Menschen die Grippe befällt, ist auch der Wald immer mal krank. Weil der Borkenkäfer nagt. Weil Rehe und Hirsche knabbern. Weil Pilze ausufern, Hitze- oder Kälteperioden die Stämme schwächen und Bäume aus Schutz vorzeitig Blätter und Nadeln abwerfen. Andere Forsten waren zu dicht bepflanzt oder mit falschen Bäumen. Aber Wälder erholen sich. Es sind die Argumente, die in den Forscherdebatten ganz zu Anfang 1979 aufgetaucht waren. „Die beobachteten Kronenverlichtungen stellen kein Krankheitsbild dar, sondern spiegeln den Normalzustand“, notieren Münchner Forstwissenschaftler.
Normalzustand? Ob dies heute so stehen bleiben kann, ist unklar. So hat der Ökowissenschaftler Andreas Schweiger aus Bayreuth vor wenigen Jahren festgestellt, der „saure Regen“, der in den 1980er Jahren im Fichtelgebirge und im Frankenwald registriert wurde, könne sehr wohl aktuell Nachwirkungen haben. „Der Säuregehalt der Böden ist immer noch zu hoch“. Giftige Schwermetalle könnten so in die Nahrungskette kommen. Vom großen Waldsterben ist vierzig Jahre später jedoch keine Rede mehr. Die Wissenschaft weiß mehr. Sie hat belastbare Daten. 2019 legten Forscher auf einem Symposium im Berliner Umweltministerium eine Sammlung von solchen Ergebnissen vor. Der Kern, so Mitautorin Nicole Wellbrock: „Gegen das in den 1980er Jahren befürchtete ‚Waldsterben‘ wurden erfolgreich Maßnahmen ergriffen, vor allem zur Luftreinhaltung. Die anthropogen (vom Menschen beeinflussten) bedingten Einträge an Schwefel konnten deutlich gemindert werden“ - auch, wenn das beim Stickstoff nicht ganz so gut geklappt hat. Gleichzeitig seien Wälder umgebaut worden: Weg vom Nadel-, hin zum Laubwald, der mehr verträgt. Das Umweltbundesamt bestätigt die Forscher: Allein zwischen 1990 und 2013 sanken die Schwefeldioxid-Emmissionen um 92 Prozent. Die Industrie hat Hausputz gemacht.
2024 muss der Wald andere Herausforderungen bewältigen. Der Klimawandel ist die extremste. Ist er gerüstet? Das ist offen. Aber noch bricht eine „Hysterie“ nicht aus - wie es damals passierte. Die taz, die sicher dem Umweltschutz nicht fernsteht, hat nachgezählt: „Heute steht in Deutschland auf einem Drittel der Landesfläche Forst, so dicht wie seit Jahrhunderten nicht. 90 Milliarden Bäume“. Und Prof. Bernhard Ulrich, der 2015 verstarb, durfte sich vorher hochbetagt freuen: „Gut, dass ich falsch gelegen habe“.
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