Ich habe es wirklich versucht und ich meinte es ernst: Meinen alten Diesel stehen lassen und auf die Bahn und den öffentlichen Nahverkehr umsteigen. Zumindest so oft es geht. Mit einer Bahncard 100, die dem Besitzer ja erlaubt, in quasi alles einzusteigen, was in Deutschland öffentlich fährt. Meine Klimabilanz sollte besser werden, zumindest beim Reisen.
Ich nehme es gleich vorweg: Ich bin krachend gescheitert. Ich wusste, dass es schlimm um die Deutsche Bahn steht. Ich wusste auch, dass die Nahverkehrs-Taktung im Ruhrgebiet ein Witz ist, für eine Millionen-Metropole. Aber ich ahnte wirklich nicht, wie schlimm es ist.
Ich bin ein Pendler. Meist von Bochum nach Dortmund, sehr häufig aber auch aus dem Ruhrgebiet in Richtung Norden und Osten – und zurück. Vor ziemlich genau einem Jahr begann ich mit dem Bahn-Pendeln. Mit der Bahncard 100 für viereinhalbtausend Euro. In der zweiten Klasse. Die Bilanz in aller Kürze: Es gab fast keine längere Fahrt, die ohne kleinere oder größere Katastrophen auskam. Am schlimmsten ist es, wenn man umsteigen muss. Vergessen sie es! Sie werden den Anschluss nicht kriegen. Und dann hängen Sie in Hannover oder Bremen, immerhin zwei Bahnhöfe mit guter Infrastruktur. Irgendwann kennt man den besten Kaffeehändler, der einem von weitem schon verschmitzt (oder mitleidig?) zulächelt, wenn man ihn frequentiert.

Unglaublich, wie viele Züge einfach ausfallen
Züge um 6 Uhr morgens in Oldenburg, um 16 Uhr nachmittags in Karlsruhe, um 20 Uhr nochwas in Berlin, die einfach ausfallen. Besonders perfide: Ausgefallene Züge werden in der Verspätungsstatistik der Deutschen Bahn nicht berücksichtigt. Was nicht da ist, kann auch nicht verspätet sein, klar. Von den nicht ausgefallenen Zügen kommt jeder Dritte zu spät. Man ist geneigt zu fragen: Wirklich nur jeder Dritte?
Jeder Dortmunder zum Beispiel kennt die große Anzeigetafel in der Vorhalle des Hauptbahnhofs, auf der schon ab vormittags quasi alle Fernzüge, die aus Richtung Westen kommen, also das Nadelöhr Ruhrgebiet durchfahren müssen, verspätet angezeigt werden. Eine klassische Tafel liest sich dann so: 20 Minuten Verspätung, 40 Minuten Verspätung, fällt aus, 25 Minuten Verspätung, fällt aus, 15 Minuten Verspätung.
Nun klingen 20 Minuten Verspätung vielleicht nicht so schlimm und man könnte entgegnen, naja, 20 Minuten verlierst du auch mit dem Auto im Stau. Mag sein, nur kann man mögliche Umstiege damit vergessen. Genau, das muss es sein: Die wenigen pünktlichen Züge sind leider immer die, die man dann am Anschlussort kriegen muss – und verpasst. Sie finden das übertrieben? Dann fragen Sie bitten jeden Bahnreisenden. Jeden.
Live dabei sein, wenn ohne Not Verspätung generiert wird
Man steht also morgens um kurz vor 6 in Oldenburg am Hauptbahnhof, will nach Bremen fahren, um dort den Zug nach Dortmund zu nehmen. Auf der Anzeigentafel steht: Zug entfällt. In der Bahn-App wird der Zug natürlich als pünktlich angegeben, bis er dann kurz vor sechs plötzlich ebenfalls entfällt, so dass man keine Chance hatte, rechtzeitig umzuplanen. Man fragt sich dann, ob der Zug sich spontan in Luft aufgelöst hat, wenn bis vor einer Minute offenbar niemand von der Bahn ahnte, dass es ihn nicht geben wird. Naja, Alternative ist, mit einer Bimmelbahn, die an jeder Milchkanne hält, nach Osnabrück zu fahren, um dort den Zug nach Dortmund abzufangen. Die Bimmelbahn startet pünktlich. Na also. Denkt man.
Dann merkt man, die Strecke nach Osnabrück ist eingleisig, der Gegenverkehr muss also durchgelassen werden, indem man in Bahnhöfen steht und wartet. Und wartet. Immer und immer wieder. So generiert man auf der Strecke nach Osnabrück ohne Not oder höhere Gewalt 50 Minuten Verspätung, verpasst den Anschluss nach Dortmund und freut sich auch dort über den bereits bekannten, mitleidigen Kaffee-Dealer. Die ersten Termine des Tages macht man dann aus der Bahn, die zwar damit wirbt, total tolles WLAN zu haben – nur leider funktioniert dieses kaum und abgehackt und wackelig und dann wieder gar nicht.
So oder so ähnlich ist es immer, immer wieder. Die Tage, an denen ich pünktlich irgendwo ankam, kann ich nach einem Jahr an einer Hand abzählen. Ich habe dann immer misstrauisch nach der versteckten Kamera gesucht. Wir sind pünktlich? Die wollen mich doch, na egal.

Das Personal ist überfordert - und kann ja meist auch nichts für die Situation
Ich habe genervtes Personal getroffen, dass sich bei den Fahrgästen auskotzt über den Arbeitgeber. Ich habe erlebt, wie eine Familie mit zwei Kleinkindern auf dem Boden sitzen musste, weil der Zug überfüllt war. Sie hatten für viel Geld Plätze reserviert, ihr Zug fiel aus, sie mussten lange warten und dann diesen hier nehmen und da galt ihre Reservierung nicht.
Sie saßen im Gang, andere Fahrgäste hievten ihre schweren Koffer über die Kleinkinder drüber. Ich habe den Schaffner gefragt, ob man die Familie nicht in die 1. Klasse versetzen könne. Nein, könne man nicht. Ich habe auch sehr, sehr nettes Personal getroffen, das ja auch wirklich nichts für die Umstände kann. Ich saß bei sechsstündigen Zugfahrten (vier waren geplant) im durchgehend geschlossenen Bordbistro. Hungrig und durstig, aber es gab nichts; kein Personal.
Ich bin in Karlsruhe gestrandet wegen Schneewetters. Sollte mir ein Hotel nehmen, sagte der Schaffner, heute ginge nichts mehr. Stunden später war der Schnee weg, ein Zug sollte gen Dortmund fahren. Aufgeregt checkte ich aus dem riechenden Bahnhofshotel wieder aus und rannte zum Zug. Setzte mich rein. Und wartete. Nach 20 Minuten die Ansage: „Ähem, wir merken gerade, die Crew ist gar nicht in Karlsruhe angekommen, wir können doch nicht weiterfahren.“ Ich schlich zurück in mein riechendes Hotel und bat darum, doch wieder einchecken zu dürfen.
Drastische Beispiele, von denen es noch so viele mehr gibt. Dabei wollte ich doch einfach nur ankommen. So ankommen, dass ich meinem Job und meinem Leben halbwegs gerecht werden konnte. Hat nicht geklappt. Wirklich nicht. Jetzt steige ich zurück in meinen alten Diesel. Ein paar Jahre wird der noch machen, das hoffe ich. Und auch, dass die Bahn bis dahin in Schienen, Gerät, Personal und realistische Planung investiert hat. Vielleicht sogar in WLAN? Dann komme ich gerne zurück. Vorher geht es einfach nicht. Es geht nicht.
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