Das Schicksal ist ein mieser Verräter im Stück „Vatermal“ von Necati Öziri am Schauspiel Dortmund. Arda liegt mit Leberversagen im Krankenhaus, er könnte sterben. Dabei hat der junge Mann noch einiges vor – und zwar mit Literatur, worüber sich sein Kumpel kaputtlacht. In einem Brief an den Vater, der die Familie verlassen hat, muss all das Leiden heraus.
Dahinter steckt ein großer Roman. Der Autor Necati Öziri, in Recklinghausen aufgewachsen, war mit „Vatermal“ für den Deutschen Buchpreis nominiert und hatte den Literaturpreis Ruhr im September gewonnen.

Immer wieder aufs Amt
„Vatermal“ als Theaterstück, dramatisiert von der Dortmunder Schauspielintendantin Julia Wissert (auch Regie) und Jasco Viefhues, bietet ebenfalls Hardcore mit Humor. Die Familiengeschichte ist harte Kost, jedoch großartig erzählt in einer vielfältigen Sprache und mit Sätzen, die man in Stein meißeln könnte. „Erzählen ist wie Wasser, Metin“, schreibt Arda an den Vater. „Einmal unterwegs, findet es seinen Weg von selbst.“
Ardas alleinerziehende Mutter Ümran, aus der Türkei geflohen nach einem Erdbeben, rutscht ins Elend. Ardas Schwester Aylin gerät in eine grässliche Pflegefamilie. Und immer wieder die Gänge aufs Amt, nachgezeichnet mit bitterem Humor, bei denen ein Herr Kowalski die Kinder mit zu Papierfliegern gefalteten Formularen traktiert.
Identifikationsfigur Arda
Regisseurin Wissert stellt die Identifikationsfigur Arda im wahrsten Sinn des Wortes ins Zentrum der Inszenierung. Schauspieler Mouataz Alshaltouh liefert hier eine unglaublich reife Leistung ab. Den Körper ganz offen zum Publikum gewendet, blickt er mit reicher Mimik und Gestik auf seinen Leidensweg zurück – ein ruhiger, kluger und abgeklärter Hiob, der durch eine Art riesiges Fenster in seine Vergangenheit springen kann.
Das macht die Bühne von von Moïra Gilliéron möglich. Eine Wand aus Sperrholzplatten öffnet sich wie ein Adventskalender immer weiter – auch zu geschickt eingesetzten Videos. Fabienne-Deniz Hammer spielt Aylin sehr temperamentvoll als Girlie mit Format in einem schicken Trainingsanzug (Kostüme Nicola Gördes). Lucia Peraza Rios lässt als verzweifelte Mutter ihre schönen Hände sprechen. Der glockenklare Chor der Migrantinnen hebt das Geschehen auf tragisches Niveau.
Unaufhaltsam nach unten
Necati Öziris Text – von den Erlebnissen des Autors inspiriert –, folgt ihrem Kampf voller Empathie. Dennoch ist bedrückend und traurig, welche fatale Rolle der Vater spielt, wie viel Zeit auf dem Amt verloren geht, wie gönnerhaft sich die Pflegefamilie verhält, wie das Leben der Familie scheinbar unaufhaltsam nach ganz unten verläuft. Das bildet im Zuschauer den Wunsch zur Veränderung. Das Stück hat allerdings auch Längen, wo dialogische Situationen fehlen.
Trotzdem: 100 Prozent Weiterempfehlung für diesen bewegenden, herzergreifenden und amüsanten Abend, zu dessen Premiere am Samstag auch die scheidende Kulturstaatsministerin Claudia Roth gekommen war. Das Publikum hielt es nicht auf den Sitzen, es gab minutenlange Standing Ovations.
Weitere Aufführungen
Termine: 30.3. (Aktion Ruhrbühnen-Spezial nur 10 Euro pro Karte), 4./26. 4., 17./25. 5., Karten: Tel. (0231) 502 72 22. www.theaterdo.de
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