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Ärzte warteten zu lange: Reyhan (5) ist den Rest ihres Lebens schwerbehindert
Landgericht Bochum
Bei der Geburt der kleinen Reyhan wurden im Kreißsaal grobe Fehler gemacht. Jetzt erhält das schwerbehinderte Mädchen 450.000 Euro Schmerzensgeld. Die Gutachter sprachen klare Worte.
Mehr als fünfeinhalb Jahre nach einem folgenschweren Behandlungsfehler bei der Kaiserschnitt-Geburt der kleinen Reyhan sind das Recklinghäuser Prosper-Hospital und ein Gynäkologe am Mittwoch am Bochumer Landgericht zusammen zur Zahlung von 450.000 Euro Schmerzensgeld verurteilt worden.
Das Geld (abzüglich bereits bis heute gezahlter 50.000 Euro) soll an die Familie des heute schwerbehinderten Mädchens gehen.
Die Richter der 6. Zivilkammer stützten ihre Entscheidung für das Vorliegen eines „groben Behandlungsfehlers“ bei der Geburt des Kindes am 2. Juni 2014 maßgeblich auf die Gutachten zweier medizinischen Sachverständigen.
Der Entschluss, Reyhan in der fraglichen Nacht um 3.49 Uhr mittels eines Not-Kaiserschnitts zur Welt zu holen, sei seinerzeit viel zu spät gefallen, hieß es. Denn bereits ab 3.17 Uhr sei nachweislich eine dramatisch absinkende Herzschlag-Frequenz beim Embryo zu verzeichnen gewesen (von 150 auf 59), die die Ärzte nach Ansicht eines gynäkologischen Gutachters in jedem Fall an die Möglichkeit einer Plazenta-Ablösung denken lassen müssen.
Gutachter: „Da musste sozusagen der Hammer fallen“
„Spätestens ab 3.25 Uhr musste man ohne Wenn und Aber handeln. Da musste sozusagen der Hammer fallen“, legte sich der Sachverständige fest. Daraus lässt sich eine verspätete Reaktion von 24 Minuten (!) errechnen. Und selbst dabei sei schon ein Zuschlag „zugunsten“ der nicht-handelnden Ärzte eingerechnet worden.
Wie dramatisch und folgenschwer sich das deutlich verspätete Einleiten der Geburt für Reyhan ausgewirkt hat, verdeutlichte auch ein zweiter Gutachter. „Wäre der Not-Kaiserschnitt bereits zum Zeitpunkt der ersten Herzton-Abfälle (3.17 Uhr) eingeleitet worden, hätte die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind unbeschadet zur Welt kommt bei 90 Prozent gelegen“, erklärte der Gutachter.
Durch das Zeit-Versäumnis sei die kleine Reyhan, die mit ihrer Mutter zum Prozess erschienen war, mit irreparablen Hirnschäden zur Welt gekommen. „Eine eigenständige Lebensführung wird nicht möglich sein. Das Kind wird Zeit seines Lebens auf Hilfe angewiesen sein“, hieß es. Die Aussicht auf Fortschritte zum aktuellen Entwicklungsstand eines zweijährigen Kindes, prognostizierte der Mediziner mit „sehr gering“.
„Letzter Versuch des Kindes, sich zu wehren“
Die Einwände der Beklagtenseite, dass angesichts der sich in der Geburtsnacht zwischendurch immer mal wieder erholenden Herztöne ein gewisses Abwarten mit einer Not-Kaiserschnitt-Geburt erklären lasse, ließen die Sachverständigen nicht gelten. „Sowas ist quasi als letzter Versuch des Kindes zu werten, sich mit allen Mitteln gegen die Sauerstoffunterversorgung zu wehren“, sagte der medizinische Gutachter.
Über das Schmerzensgeld hinaus, stellten die Richter auch fest, dass das Prosper-Hospital und der damalige Gynäkologe grundsätzlich auch für alle künftigen materiellen Folgeschäden aufkommen müssen. Reyhans Mutter berichtete, dass bei der heute Fünfjährigen leider keine wesentlichen Fortschritte zu verzeichnen seien: „Sie ist kann nicht laufen, nicht sitzen und auch nicht gut essen und trinken.“
Rechtsanwältin Christel Dymke: „Die Mutter ist im Grunde rund um die Uhr mit Reyhan beschäftigt.“ Neben Physiotherapie, Ergotherapie, Osteopathie (bislang komplett selbstbezahlt) und Logopädie, profitiere das Mädchen jedoch vor allem von einer jährlichen Reha-Maßnahme in einer Spezialklinik in Meerbusch.