Abrechnungsaffäre im Kreis Unna Staatsanwalt klagt zwei Politiker wegen Betrugs an

Abrechnungsaffäre: Staatsanwalt klagt Sell und Dr. Seier wegen Betrugs an
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Es geht um die nicht korrekte Abrechnung von Verdienstausfall und um daher zu Unrecht erhaltene Entschädigungen aus öffentlichen Kassen: Die von dieser Redaktion aufgedeckte Abrechnungsaffäre beim Kreis Unna hat jetzt eine weitere wichtige Etappe zurückgelegt. Die Ermittlungen zogen und ziehen sich lange hin.

Dr. Niklas Nowatius bestätigte am Dienstag (19. Februar) auf Nachfrage, dass von der Staatsanwaltschaft Dortmund kürzlich zwei Anklageschriften beim Amtsgericht Lünen eingegangen sind. Die Schriftstücke seien den beiden Beschuldigten auch bereits zugestellt worden, so der Direktor des Amtsgerichts.

Vorwurf: gewerbsmäßiger Betrug

In dem einen Fall handelt es sich um Dr. Hubert Seier, Mitglied des Kreistages in Unna sowie des Stadtrates von Selm. Seier, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion Die Linke/UWG-Selm im Kreistag, werde von der Anklagebehörde gewerbsmäßiger Betrug in 17 Fällen vorgeworfen.

In der Sache geht es darum, dass Seier die ihm als selbstständigem Unternehmer prinzipiell zustehenden Entschädigungen für ausgefallenen Verdienst in der Zeit seiner Mandatsausübung zu Unrecht doppelt geltend gemacht habe.

So soll, wie Nowatius erläutert, Seier Ersatz für entgangenen Verdienst auch von der Stadt Selm gefordert haben, obwohl dieser ihm vorher schon vom Kreis Unna erstattet worden sei. Diese Erstattung habe er gegenüber der Stadt Selm verschwiegen. Im Rat der Stadt Selm ist Seier Vorsitzender der UWG-Fraktion, einer unabhängigen Wählergemeinschaft.

Dass Seier nicht wegen einfachen, sondern wegen gewerbsmäßigen Betrugs angeklagt wird, deutet darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft die 17 Fälle als vorsätzliches wiederholtes Vorgehen in der Absicht, persönliche finanzielle Vorteile daraus zu ziehen, wertet.

Strafprozess gegen Seier noch nicht eröffnet

Gewerbsmäßiger Betrug wird vom Strafgesetzbuch als „besonders schwerer Fall“ des Betrugs definiert. Die Strafandrohung ist daher auch erhöht und liegt in jedem Fall bei einer Freiheitsstrafe, die mindestens sechs Monate und längstens zehn Jahre dauern kann.

Die Anklage gegen Dr. Hubert Seier ist vor dem Schöffengericht in Lünen erhoben worden. Schöffengerichte, die mit mehreren Richtern besetzt sind, sind zuständig, wenn eine Strafe von mehr als zwei Jahren zu erwarten ist. In diesem Fall könnte auch keine Bewährung mehr verhängt werden; allerdings kann das Schöffengericht in seinem Urteil auch unter dieser Straferwartung bleiben.

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Etappen im Strafverfahren

  • Das Ermittlungsverfahren ist die ersten von drei Stufen in einem Strafverfahren. Die Polizei übergibt in diesem Zuge der Staatsanwaltschaft ihre ermittelten Tatsachen; die Anklagebehörde prüft dann, ob eine Verurteilung des Beschuldigten wahrscheinlicher ist als ein Freispruch.
  • Im zweiten Schritt kommt es in diesem Fall zum Zwischenverfahren. Hier geht die Anklageschrift beim zuständigen Gericht ein und wird von dort an die Angeschuldigten – noch nicht Angeklagten – zugestellt. Nach einer Frist zur Stellungnahme für den Strafverteidiger prüft das Gericht, ob es ebenfalls eine Verurteilung weiterhin für wahrscheinlicher hält und erlässt in diesem Fall einen Eröffnungsbeschluss.
  • Im Hauptverfahren gegen den Angeklagten schließlich werden in öffentlicher Verhandlung die Anklage verlesen und die Beweise gewürdigt, bis es zu einem Urteil kommt.

Im Fall von Hubert Seier besteht aktuell noch eine Besonderheit: So ist die Frist für ihn als Angeschuldigten bzw. für seinen Strafverteidiger für eine Stellungnahme noch nicht abgelaufen. Daher darf das Amtsgericht das Hauptverfahren noch nicht eröffnen; dementsprechend ist auch noch kein Prozesstag terminiert.

Man befinde sich aktuell im Zwischenverfahren, erläuterte Dr. Niklas Nowatius. Der Angeschuldigte habe die Möglichkeit, tatsächliche oder rechtliche Einwände gegen die Anklageschrift zu erheben. Komme das Gericht danach zu dem Schluss, dass die Vorwürfe eine Verurteilung doch nicht überwiegend wahrscheinlich machen, könne die Eröffnung des Hauptverfahrens auch abgelehnt werden.

Ermittlungen gegen Lütschen laufen noch

Eine Kontaktaufnahme mit Dr. Hubert Seier scheiterte unterdessen am Dienstag. Eine Bitte zur Stellungnahme blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Bereits im Mai 2023 war bekannt geworden, dass Seier jeweils rund 1.800 Euro an den Kreis Unna und die Stadt Selm zurückgezahlt hatte.

Derweil ist das Ermittlungsverfahren gegen das mittlerweile fraktionslose Kreistagsmitglied Timon Lütschen (vorher Bündnis 90/Die Grünen) aus Kamen noch nicht abgeschlossen; auch das Verfahren gegen die ebenfalls fraktionslose Marion Küpper, vor einigen Jahren Bürgermeisterkandidatin für die Grünen in Selm, hat noch nicht den Stand des Seier-Verfahrens.

Dr. Hubert Seier (rechts) und Werner Sell (links)
Während es für einen Strafprozess gegen Dr. Hubert Seier (r.) noch keinen Eröffnungsbeschluss des Amtsgerichts Lünen gibt, ist die Verhandlung gegen den ebenfalls angeklagten Werner Sell bereits terminiert worden. © Sell/Weckenbrock (Archiv)

Anders liegt es in einem vierten Fall. So bejahte die Staatsanwaltschaft die Nachfrage dieser Redaktion, ob sich bei den bisherigen Ermittlungen Anhaltspunkte für weitere Tatverdächtige ergeben hätten.

So ist Werner Sell, bis 2020 Fraktionsvorsitzender der Linken im Kreistag und bis heute Ratsherr in Selm (fraktionslos), ebenfalls angeklagt worden. Das Hauptverfahren hat das Amtsgericht Lünen in seinem Fall auch bereits eröffnet.

Es ist bislang ein Verhandlungstag am 8. November terminiert worden, wie Amtsgerichtsdirektor Dr. Nowatius mitteilte.

Die Staatsanwaltschaft wirft Sell einfachen Betrug in zehn Fällen vor. Auch Sell soll bei der Stadt Selm Verdienstausfall abgerechnet haben, obwohl er bereits aus der Kreiskasse Entschädigungen erhalten habe. Sell sei ebenfalls beim Schöffengericht angeklagt worden.

Angeklagter Sell: Nicht vorsätzlich betrogen

„Da sind noch sehr viele Ungereimtheiten“, meinte Sell am Dienstag im Gespräch mit dieser Redaktion. Die Staatsanwaltschaft komme auf eine Schadenssumme von rund 2.300 Euro; er selbst komme auf höchstens 1.400 Euro, die womöglich ungerechtfertigt an ihn ausgezahlt wurden.

Bei der Stadt Selm und beim Kreis Unna habe es unterschiedliche Abrechnungsmodalitäten gegeben. So sei, sagt Sell, beim Kreis stets monatlich abgerechnet worden, bei der Stadt Selm hingegen alle drei Monate.

Termine, die er in den unterschiedlichen Gremien hatte, habe er öfter verschieben müssen, in seinen Sitzungskalendern seien sie womöglich aber nachträglich nicht aktualisiert worden, sodass versehentlich falsche Grundlagen für seine Abrechnungen vorlagen.

„Es sind Schlampereien passiert“, räumte Sell ein. Allenfalls fahrlässiges Verhalten also – vorsätzlich betrogen habe er nicht. Sein Verteidiger werde insofern noch Aufklärung leisten, warte aber noch auf die angeforderten Ermittlungsakten.

Den angesetzten Prozesstermin habe er zur Kenntnis genommen. Die ganze Angelegenheit „belastet meine Familie und mich sehr“, so Werner Sell.