Nachdem erstmals in Nordrhein-Westfalen der Start der Abiturprüfungen komplett verschoben werden musste, steht Schulministerin Dorothee Feller (CDU) erheblich unter Druck. Am Mittwoch entschuldigte sich die CDU-Politikerin ausdrücklich bei den rund 30.000 betroffenen Abiturienten sowie deren Eltern und Lehrern an etwa 900 Schulen. Sie wisse, was die kurzfristige Entscheidung mitten in den Prüfungsvorbereitungen bedeute. „Das ist wirklich ärgerlich.“
Auch Regierungschef Hendrik Wüst (CDU) räumte auf Twitter ein: „Dass die Abiturprüfungen in NRW verschoben werden müssen, darf nicht passieren - ganz gleich, woran es gelegen hat“. Im Namen der Landesregierung bat er alle Betroffenen um Entschuldigung.
Dass die Abiturprüfungen in #NRW verschoben werden müssen, darf nicht passieren – ganz gleich, woran es gelegen hat. Im Namen der Landesregierung bitte ich die Abiturientinnen und Abiturienten, Eltern, Lehrer und alle weiteren Betroffenen ausdrücklich um Entschuldigung.
— Hendrik Wüst (@HendrikWuest) April 19, 2023
Am Dienstagabend hatte das Schulministerium erst um 20.32 Uhr in einer Mail an die Schulleitungen kommuniziert, dass die Abi-Klausuren in den Prüfungsfächern Biologie, Chemie, Ernährungslehre, Informatik, Physik und Technik von Mittwoch auf Freitag verschoben werden müssen.
Das ab 12 Uhr landesweit freigeschaltete Herunterladen der Aufgaben hatte nach Angaben des Ministeriums nur an etwa 300 von 900 Schulen geklappt. Betroffen seien rund 30.000 Abiturienten.
Download-Probleme möglicherweise durch Sicherheitsstufe
Die Probleme hingen möglicherweise damit zusammen, dass für den Download der Aufgaben erstmals eine Zwei-Faktor-Authentifizierung durch die Schulen nötig war, teilte das Ministerium am Abend mit. Mit dem Verfahren, dass Kunden etwa auch von Bankgeschäften kennen, sollte die IT-Sicherheit erhöht werden. Die zusätzliche Sicherheitsstufe sei nun aber wieder deaktiviert worden. Die Aufgaben für die nächsten Abiturprüfungen könnten sich die Schulen nun wieder mit der in den vergangenen Jahren angewendeten Technik herunterladen. Am Mittwoch sei es zu keinen weiteren Problemen gekommen. Die Schulen hätten alle Aufgaben für die zentralen Abiturprüfungen an diesem Donnerstag ohne Probleme herunterladen können.
Das Abi-Debakel ist aus Fellers Sicht allerdings kein Anlass, deswegen nach nur knapp zehn Monaten im Amt schon aus dem schwarz-grünen Kabinett zurückzutreten - wie von den Jungen Liberalen nahegelegt. „Einer muss ja jetzt dafür sorgen, dass es läuft“, beantwortete sie die Frage.
Aber kann sie das für die weiteren 20 Downloads von Abituraufgaben garantieren, die nach Angaben ihres Hauses insgesamt noch nötig sind? „Das wünschen wir uns alle - vor allem für die Abiturientinnen und Abiturienten“, antwortete Feller. „Aber in diesen Zeiten kann ich das nicht zusichern.“
Kritik an der fehlenden Kommunikation
Es ist die erste große Panne der 56-jährigen studierten Verwaltungsjuristin, die niemand auf dem Zettel hatte, als Wüst die damalige Münsteraner Regierungspräsidentin in eines der wichtigsten Ressorts berief. Nach dem Download-Infarkt, der sich nach Fellers Angaben bereits am Dienstagmittag kurz nach 14 Uhr in ihrem Ministerium angekündigt hatte, wird ihr von Schüler- und Lehrerverbänden sowie der Opposition vor allem mangelnde Kommunikation vorgeworfen.
„Alle Beteiligten schlicht im Regen stehen zu lassen, fünf Stunden lang keinen Telefonhörer abzunehmen und auf Tauchstation zu gehen“, sei Kommunikations- und Verwaltungsversagen, kritisierte die schulpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, Dilek Engin. Dazu soll die stets betont nüchtern auftretende Ministerin am Freitag in einer Sondersitzung des Schulausschusses Rede und Antwort stehen.

Was sich aus Sicht der Schulgemeinden, der Opposition und der Medien als stundenlange Hänge-Partie darstellte, war nach Fellers Schilderungen im Ministerium ein hoffnungsvolles Ringen um einen Plan B - sowohl mit dem Arnsberger Dienstleister, mit dem das Ministerium seit 2018 gut zusammengearbeitet habe und der versucht habe, einen zweiten Server an den Start zu bringen, als auch parallel mit einer weiteren Firma.
Das Unternehmen sei zuversichtlich gewesen, dass es noch klappt mit dem Herunterladen der Aufgaben und ihr Ministerium auch - „bis unsere Lösung zerbröselte“. Der Upload auf den Server habe zu 96 Prozent geklappt, sei dann aber zusammengebrochen. Hier habe sich die Erfahrung bewahrheitet: „Wenn es einmal schief geht, geht alles schief“, bilanzierte Feller.
Mit der Kommunikation habe sie warten wollen, bis sie eine Lösung präsentieren könnte. Ihr Ministerium habe die Schulleitungen mehrfach informiert, dass daran gearbeitet werde. Bei der SPD-Politikerin Engin erntet sie mit dieser Strategie wenig Verständnis: „Wer nicht erkennt, wann der Moment gekommen ist, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen, hat die Kontrolle verloren“, ätzte die Schulpolitikerin.
Muslimische Schüler dürfen im Mai nachschreiben
Die Landesschülervertretung (LSV) äußerte sich genervt. „Die Stimmung ist natürlich wahnsinnig schlecht“, sagte Theo Blaesse aus dem Landesvorstand. Der Ausweichtermin ist aus Sicht der LSV eine Katastrophe, da Freitag das muslimische Zuckerfest beginnt und ein Bahnstreik angekündigt ist. Mit der Bahn kämen allerdings nicht viele Schüler, hielt Feller dagegen. Muslimischen Schülerinnen und Schülern bot die Ministerin wegen des Zuckerfests einen Ausweichtermin im Mai an. „Wer wegen des Festes nicht an den Prüfungen teilnehmen möchte, kann nach vorheriger Abstimmung mit der Schulleitung am 9. Mai nachschreiben.“
Geprüft werde, ob es am Freitag neue Abituraufgaben geben soll. Derzeit gebe es dafür aber keinen konkreten Anlass, sagte eine Fachreferentin des Ministeriums. „Wir gehen davon aus, dass die Aufgaben nicht verbrannt sind.“
Die Beamten und Angestellten seien verpflichtet, die Abitur-Aufgaben unter Verschluss zu halten, mahnte Feller. Allerdings ist bekanntgeworden, dass an den rund 300 Schulen, wo das Herunterladen geklappt habe, die Aufgaben auch an benachbarte Schulen verteilt worden sein sollen. Disziplinarisch verfolgen wolle sie das nicht, erklärte die Ministerin.
Ursache für den Absturz noch nicht bekannt
Immer wieder haben seit Einführung des Zentralabiturs in NRW 2007 größere und kleinere Pannen für Schlagzeilen und teils auch für Ersatzaufgaben und Nachschreibetermine gesorgt. Den heftigsten Wirbel hatte zuvor das sogenannte Oktaeder des Grauens ausgelöst, das den Abiturjahrgang 2008 vor fast unlösbare Mathe-Aufgaben gestellt hatte. Ergebnis: Alle Betroffenen durften die Klausur neu schreiben.
Mehrere Lehrerverbände forderten, nun ein pannenfreies Abitur sicherzustellen. Feller versicherte, jetzt werde mit Hochdruck daran gearbeitet, dass dies die einzige Störung im Abitur 2023 bleibe. Zumindest für diesen Donnerstag konnte das Ministerium nachmittags vermelden: „Der Download der schriftlichen #Abituraufgaben für die Prüfungen morgen (20. April 2023) verläuft reibungslos.“
dpa
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