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Arzt stellt 95-Jährigen vor die Tür: „Stehengelassen wie Wachsfiguren“
Disput in der Praxis
Ein Senior, ein Mediziner, zwei Meinungen, ein Rausschmiss: Ein Fall aus Holzwickede zeigt den komplizierten Umgang mit Corona-Regeln beim Arztbesuch. Am Ende verlieren beide Seiten.
Der Gedanke von Friedrich Stute ist naheliegend: Ehefrau Margarethe hat am
Mittwoch einen Termin beim örtlichen Orthopäden. Er selbst hat Schmerzen im Knie, warum nicht mitfahren und fragen, ob der Arzt sich das mal ansieht? Er mit 95 Jahren, sie mit 93 Jahren. Er in Pflegestufe zwei, sie blind und in Pflegestufe drei. Die Krankenfahrt für seine Frau findet sowieso statt, da kann er ja gleich mit – zumal Margarethe eine Begleitperson braucht.
Der Fahrer der „Unnarama Krankenfahrten“ bringt beide zum Arzt, zu dritt geht es zehn Minuten vor 9 Uhr in die Praxis von Dr. Wolfgang Petschulat mit Sitz an der Allee. Dann wird es unschön. Noch bevor der Fahrer Margarethe Stute anmeldet, die einen Termin zur vollen Stunde hat, trägt ihr Mann sein Anliegen am Empfang vor. Ohne Termin sei das nicht möglich, bitte die Maske richtig aufsetzen, er könne nicht in der Praxis warten, bis seine Frau fertig ist – das hätten die Praxis-Mitarbeiterinnen dem 95-Jährigen entgegnet.
Arzt setzt sein Hausrecht gegen Senior durch
„Ich hatte Schmerzen und denke, ich kann damit zum Arzt. Und dann wirft man mich raus“, so der 95-Jährige und erzählt auf Nachfrage in ruhigem Ton seine Version, die zum Rausschmiss führte: „Ich bin lauter geworden, habe mich geweigert zu gehen, war aber nicht ausfällig oder beleidigend.“ Die Maske könne schon mal tiefer sitzen, da er wegen eines Lungenemphysems schlecht Luft bekomme, führt der geimpfte und geboosterte Senior aus.
Die Praxis-Angestellten sahen sich letztlich überfordert und holten den Chef zu Hilfe. Dr. Wolfgang Petschulat sagt: „Reinkommen, schreien und ankündigen zu bleiben, bis man behandelt werde – das geht nicht. Herr Stute ist den Anweisungen meiner Mitarbeiterinnen nicht gefolgt, die mit einer Engelsgeduld erklärt haben, dass er einen Termin braucht und aufgrund der Corona-Regeln nicht bleiben kann.“ Letztlich habe er einschreiten und ihn der Praxis verweisen müssen.
Der Arzt verweist darauf, dass man auch zweieinhalb Jahre nach Pandemiebeginn im medizinischen Bereich noch immer an ein strenges Coronaschutz-Konzept gebunden sei. Das wird einerseits durch die derzeitige Coronaschutzverordnung NRW als auch durch entsprechende Handlungsempfehlungen der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen gedeckt. Mehrere Zettel an der Praxistür weisen auf die Regeln hin. „Das wird schnell vergessen. Wir würden es uns auch anders wünschen, aber ich habe eine Verantwortung meinem Team und auch anderen Patienten gegenüber“, so Dr. Petschulat.

Den Hausregeln zufolge war Dr. Petschulat im Zwist mit den Eheleuten Stute im Recht. Ob der Umgang mit den Senioren nach moralischen Gesichtspunkten gerechtfertigt war, lässt sich wohl nur subjektiv beantworten. © Greis
Maria Meißner, die Tochter der Eheleute, findet das Vorgehen dennoch unmöglich: „Ich verstehe die Regeln, aber das sind alte Leute. Die haben kein Handy. Meine Mutter ist blind. Wenn sich mein Vater aufregt, dann nehme ich ihn beiseite, erkläre ihm das, aber setze einen 95-Jährigen nicht so vor die Tür.“ Ob Streit oder nicht: „Und dann stelle ich wenigstens einen Stuhl hin und gebe dem Mann ein Glas Wasser.“
Keine Sitzgelegenheiten rund um die Praxis
Beim Hausbesuch dieser Redaktion wird klar, dass beide Senioren entsprechend ihrer Pflegegrade schlecht zu Fuß sind. Selbst das nahe Bürgerbüro wäre abgesehen vom gepflasterten Untergrund für beide wohl zu viel gewesen. Gegenüber ist der Rathaus-Anbau samt Vorplatz noch Baustelle. „Die Praxis war doch leer. Was wäre denn gewesen, wenn mein Mann im Wartezimmer gesessen hätte?“, fragt Margarethe Stute.
Dem widerspricht Dr. Petschulat. „Es waren einige Patienten zu dem Zeitpunkt in der Praxis und es wurde durch die Auseinandersetzung drubbelig. Die Sache ist: Wenn Herr Stute nicht so viel diskutiert hätte, wäre der Fahrdienst auch vor Ort geblieben.“ So aber habe sich eben auch die Untersuchung hingezogen.
Fahrdienst stützt Sichtweise der Eheleute Stute
Ramadan Krasnici, Geschäftsführer der beauftragten „Unnarama Krankenfahrten“, sieht es nach Austausch mit dem eingesetzten Fahrer anders. Zum einen schilderte der, dass er beim Betreten der Praxis maximal zwei weitere Patienten wahrgenommen habe. Den Umgang mit den Stutes habe er zudem vor Ort damit kommentiert, dass man die eigenen Eltern nicht so behandeln würde. „Die zehn Minuten Diskussion haben zudem nichts damit zu tun, dass der Fahrer nicht blieb. Uns wurde gesagt: Untersuchung dauert circa eine halbe Stunde. Letztlich wurden wir gegen 10 Uhr informiert, dass wir Frau Stute holen können. So lange lasse ich Fahrer nicht vor Ort.“
Als der Fahrdienst gegen 10.30 Uhr zum Abholen eintraf, warteten die Stutes auf ihren Rollatoren vor der Praxis. „Der Arzt und sein Team haben nach uns die Praxis für ihre Pause geschlossen. Er ist wort- und grußlos an uns vorbeigegangen“, sagt der Bäckermeister, einst Inhaber von vier Backstuben in Dortmund und Holzwickede. „Stehengelassen wie Wachsfiguren hat man uns.“ Die Tochter wendet ein: „Auch wenn man sich streitet, finde ich das menschlich einfach nicht in Ordnung. So lässt man alte Leute mit Pflegegrad nicht zurück.“
Dr. Wolfgang Petschulat beteuert, dass die Situation auch für ihn unangenehm sei. Dass er letztlich aber keine Ausnahmen von bestehenden Regeln macht. Zumal mit Friedrich Stute zunächst auch ein Termin für den folgenden Montag gefunden wurde. „Aber wenn Herr Stute so den Weg in die Öffentlichkeit sucht, dann ziehe ich den Termin zurück. Dann sehe ich das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient gestört.“
Damit konfrontiert, sagt der 95-Jährige trotz anhaltender Beschwerden in den künstlichen Knien: „Ist mir recht. Zum ihm will ich auch nicht mehr.“
Jahrgang 1985, aufgewachsen auf dem Land in Thüringen. Fürs Studium 2007 nach Dortmund gekommen. Schreibt über alles, was in Holzwickede passiert. 17.000 Einwohner mit Dorfcharakter – wie in der alten Heimat. Nicht ganz: Dort würden 17.000 Einwohner locker zur Kreisstadt reichen. Willkommen im Ruhrgebiet.
