60.000 Euro Hilfe vom Weißen Ring Kreis Unna „Sind Sie schon betrogen worden, Herr Streibel?“

60.000 Euro vom Weißen Ring: Hilfe meist für Opfer von Sexualdelikten
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Der Weiße Ring im Kreis Unna hat 2023 mit 60.000 Euro auch finanziell geholfen. Teamleiter Reinhard Streibel äußerte sich im Interview nach der Veröffentlichung der Kriminalstatistik für den Kreis Unna.

Wie viele Opfer von Verbrechen haben Sie 2023 betreut?

Wir haben im Jahr 2023 rund 250 Fälle betreut, davon ein Großteil zum Thema häusliche und sexualisierte Gewalt. Ein großer Teil dieser Fälle wiederum waren Mädchen und Frauen – und es ist eine steigende Zahl.

Die Zahlen der Polizei sind im Bereich der Sexualstrafdelikte eher kontinuierlich mit nur leichten Veränderungen. Bei uns steigen die Zahlen wirklich ganz enorm. Damit will ich nicht sagen, dass die Zahlen der Polizei falsch sind, sondern es hängt vielleicht auch damit zusammen, dass wir bekannter werden hier im Kreis Unna als Opferschutzorganisation und dass auch mehr an uns herangetreten wird.

Reinhard Streibel (72) ist Teamleiter der Opferschutzorganisation Weißer Ring im Kreis Unna.
Reinhard Streibel (72) ist Teamleiter der Opferschutzorganisation Weißer Ring im Kreis Unna. © Screenshot

Wenden sich Opfer womöglich nur an Sie und nicht an die Polizei?

Das kommt durchaus vor, ja. Wobei, das ist sicherlich ein kleinerer Teil, aber es gibt eben eine ganze Reihe von Fällen, zum Beispiel im Bereich Stalking. Das ist so eine Grauzone. Wann wird Polizei tätig? Welche Grundlagen müssen schon da sein beim Stalking?

Auch im Fall von Sexualdelikten gibt es Frauen, die sagen: Ich kann den Fall jetzt noch nicht zur Anzeige bringen, weil es vielleicht der Ehemann oder ein Partner ist oder weil es womöglich gemeinsame Kinder gibt.

Es gibt aber auch Fälle, die gar nicht ermittelt werden können, weil es keinen festen Wohnsitz gibt: Der Stalker, der Vergewaltiger, der Täter, kann nicht ermittelt werden. Ein Dunkelfeld gibt es in allen Straftatbereichen.

Welche Opfer kommen hauptsächlich zu Ihnen?

Grundsätzlich ist der Weiße Ring für alle Opfer von allen Straftaten zuständig oder ansprechbar. Da gibt es keine Ausnahme. Wir treten nur nicht ein im Privatrecht, also in Scheidungsdingen. Und wir kümmern uns nie um Schmerzensgeld und Schadensersatz.

Der Großteil der Fälle, die bei uns landen, sind Gewalttaten. Einbrüche, Wohnungseinbrüche, Raubdelikte, Diebstahldelikte, Betrugsdelikte spielen auch eine Rolle. Gerade auch bei Frauen und bei Senioren.

Aber im Verhältnis zu der großen Gruppe von Frauen, die Opfer von Sexualstraftaten geworden sind – einige Männer gibt es auch als Opfer von Sexualstraftaten – ist die andere Gruppe eher eine Minderheit.

Können Sie einmal konkrete Hilfe schildern?

Was wir hier auch vor Ort entscheiden können, sind einmal Beratungschecks für eine kostenlose anwaltliche Erstberatung. Die andere Form der schnellen Hilfe ist eine Soforthilfe. Das heißt, wir können eine Soforthilfe auszahlen bis zu 300 Euro im Einzelfall.

Es gibt natürlich auch die größeren Fälle, wo es weit über eine Soforthilfe hinausgeht. Wir haben den Fall einer jungen Frau mit einem Kind, die nach häuslicher und sexualisierter Gewalt ins Frauenhaus geflüchtet ist.

Die Einkommensverhältnisse bei der Frau sind so, dass sie bedürftig ist im Sinne des Weißen Rings. Wir können den Eigenanteil im Frauenhaus übernehmen.

Der weitere wichtige Schritt war dann, dass für die Frau und ihr Kind eine Wohnung gesucht und gefunden worden ist, weil sie nicht mehr zurück konnte, nicht mehr zurück wollte in die Wohnung mit ihrem Ex-Partner.

Die Wohnung war leer und nicht renoviert. Wir haben einen erheblichen Zuschuss gewährt für die Einrichtung und für die Renovierung der Wohnung. Die Entscheidung dauerte, glaube ich, zwei oder drei Tage und es ging um eine Summe von 6.000 Euro, also nicht mal eben Peanuts.

Zum Thema

Bundesweites Opfertelefon

  • Reinhard Streibel (72) ist Leiter der Außenstelle des Weißen Ringes im Kreis Unna. Er ist erreichbar unter Tel. 01575 6 15 60 19 oder E-Mail an r.streibel-wr@email.de.
  • Die Rufnummer des bundesweiten Opfertelefons lautet 116 006; weitere Info unter www.weisser-ring.de. Spendenkonto: IBAN DE26 5507 0040 0034 3434 00.
  • Mitbegründer des Weißen Rings war 1976 Eduard Zimmermann, Erfinder der Sendereihe „Aktenzeichen XY ...ungelöst“.

Bedarf es eines Nachweises in Form einer polizeilichen Strafanzeige?

Jein. Wir brauchen keine Anzeige als Beleg. Wir verschaffen uns einen Eindruck und es gibt bei uns einen Leitgedanken: Grundsätzlich glauben wir dem Opfer. Häufig sind Opfer in der Situation, dass man ihnen nicht glaubt, dass man der Frau nicht glaubt, dass ihr Mann so gewalttätig sein kann, weil der doch einen guten Eindruck macht. Der ist Arzt oder ist Pilot oder sogar Polizeibeamter. Solche Fälle gibt es auch.

Wenn es erhebliche Zweifel gibt bei dem, was gesagt wird, wenn es sehr widersprüchliche Aussagen gibt, dann haken wir mal nach. Es kommt selten vor, dass wir im Nachhinein merken, wir sind betuppt worden. In meinen zehn Jahren im Kreis Unna waren das vielleicht drei Fälle.

Auf wen trifft man als Opfer beim Weißen Ring?

Es gibt generell beim Weißen Ring keine Vorgaben, was die Profession, die Berufe angeht, aus denen wir kommen. Es geht immer darum, dass die Menschen empathisch sein sollen und auch ein Stück belastbar bei den Dingen, die sie bei uns im Team erfahren.

Wir sind neun Personen mit mehr oder weniger großer Verfügbarkeit: Wir haben Psychologie-Studentinnen und -Studenten, wir haben eine Verwaltungskraft, eine ehemalige Lehrerin ist bei uns im Team, demnächst kommt wahrscheinlich eine Polizeibeamtin dazu.

Ich selber bin Sozialarbeiter gewesen, habe aber diese Rolle nicht beim Weißen Ring. Ich bin nicht der Sozialarbeiter, der dauernd zur Verfügung steht, sondern ich und wir alle sind eher die Vermittler in das Hilfesystem. Es ist also auch keine Telefonseelsorge, sondern praktische Hilfe. Sehr praktisch, sehr hautnah.

Welches sind die eher außergewöhnlichen Fälle?

Es gibt selten vorkommende Fälle wie zum Beispiel die Namensänderung. Da haben wir gerade zwei laufende Fälle, wo jugendliche Mädchen den Nachnamen ihres Vergewaltigers loswerden wollen.

Das sind zwei getrennte Fälle. Beide sind in Therapie und ein Teil ihrer Therapie ist: Ich will diesen Nachnamen nicht mehr tragen. Den Vornamen haben sie schon so für sich im Alltagsumgang geändert, aber sie tragen eben noch den Nachnamen. Eine Namensänderung ist nicht billig und wir können auch solche Kosten übernehmen.

Woher kommen die Finanzmittel des Weißen Rings?

Wir bekommen keinerlei öffentliche Mittel. Das System trägt sich bis heute. Wir bekommen ein hohes Maß an Spendenmitteln und an Geldbußen von Gerichten. Ansonsten haben wir noch einen ganz kleinen Anteil an Mitgliedsbeiträgen.

Das ist insgesamt ein Volumen von jährlich 17, 18 Millionen Euro bundesweit. An die 3.000 Ehrenamtliche arbeiten ohne jegliche Aufwandsentschädigung. Aber durch dieses System haben wir sehr viel Geld für die Unterstützung von Opfern. Und so konnten wir im Kreis Unna im letzten Jahr etwas über 60.000 Euro ausgeben.

Ich bin darauf nicht stolz. Weil ich sage: Wir mussten leider so viel Geld aufwenden, weil es leider so viele Fälle gab, weil es leider so viel Leid gab und weil leider öffentliche Stellen oftmals nicht in dem Umfang wirklich leisten, wie sie es tun sollten, wie zum Beispiel Eigenanteile im Frauenhaus. Ein absolutes Unding, dass es so etwas gibt. Da denke ich, sollte der Staat eintreten und solche Kosten übernehmen.