Kurt Salterberg, Mitglied des Führerbegleitbataillons und wachhabender Soldat in Hitlers Hauptquartier, hat das Attentat von Stauffenberg am 20. Juli in der Wolfsschanze in Rastenburg (Ostpreußen) miterlebt.

Kurt Salterberg, Mitglied des Führerbegleitbataillons und wachhabender Soldat in Hitlers Hauptquartier, hat das Attentat von Stauffenberg am 20. Juli in der Wolfsschanze in Rastenburg (Ostpreußen) miterlebt. © Linz/PiLi

Hitler-Attentat am 20. Juli: „Stauffenberg zeigte mir schweigend seinen Ausweis“

rnAttentat auf Hitler

Kurt Salterberg stand im Führerhauptquartier Wolfsschanze Wache, als Claus Graf Schenk von Stauffenberg vor 79 Jahren seinen Sprengsatz zündete. Jahrzehnte später kehrte der Wachmann zurück.

Rastenburg

, 30.07.2022, 07:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Schon als Soldat quälten ihn in den Rastenburger Wäldern die Mücken. Das hat sich auch Jahrzehnte später nicht geändert. „Hier war es“, ruft Kurt Salterberg und stoppt: „Hier stand ich Wache!“ Tiefer als die Insektenstiche gehen die Erinnerungen unter die Haut. Alles kommt ihm so lebendig vor: die Zeit im Führerhauptquartier, das Attentat vom 20. Juli 1944. Salterberg war der Soldat, der Stauffenberg zu Hitler ließ.

Der letzte Augenzeuge vom 20. Juli 1944

Aus den Baumkronen zwitschern Vögel, an einigen Stellen durchdringt Sonne das dichte Blätterwerk. So unbeschwert wie sich die Touristenattraktion heute darstellt, muss es hier schon vor mehr als sechs Jahrzehnten zugegangen sein, als Hitlers Stab in der Bunkerstadt Befehle erarbeitete, die ganz Europa in die Katastrophe stürzten. Im Führerhauptquartier Wolfsschanze, damals Ostpreußen und heute polnisches Masuren, verbrachte Hitler den größten Teil des Krieges. Und um ein Haar hätte die Herrschaft des Diktators hier ihr Ende gefunden. Doch das Attentat vom 20. Juli scheiterte. Kurt Salterberg aus Hamm an der Sieg, heute 99 Jahre alt, ist wohl der letzte Augenzeuge des Anschlags.

Diese Reportage stammt aus dem Jahr 2010. Der Autor begleitete Kurt Salterberg damals zur Wolfsschanze, an den Ort des Attentats auf Adolf Hitler von 20. Juli 1944. Heute ist Salterberg 100 Jahre alt und lebt in Hamm an der Sieg.

„Im November 1943 wurde ich von der Ostfront zur Infanteriedivision ‚Großdeutschland‘ versetzt, die als Teil des Führer-Begleitbataillons für Hitlers Sicherheit sorgte“, sagt Salterberg und betont gleich zweimal, dass er damit Angehöriger der Wehrmacht war und nicht zur Waffen-SS gehörte.

Reste des Führerhauptquartiers Wolfsschanze nahe Rastenburg - Ketrzyn.

Reste des Führerhauptquartiers Wolfsschanze nahe Rastenburg - Ketrzyn. Das Foto zeigt einen Besucher in einem der Bunker des Führerhauptquartiers, die trotz Spreng teilweise zugänglich sind. © Linz/PiLi

Damals jedoch hätte er das Attentat wohl verhindert, wenn er geahnt hätte, was Stauffenberg bei sich trug. „Wir waren Soldaten mit Leib und Seele, hatten unseren Eid auf Hitler geschworen. Was das bedeutete, können jüngere Generationen kaum nachvollziehen. Für uns war Stauffenberg ein Feigling, der nicht zur Waffe griff, sondern Sprengstoff benutzte, um selbst heil davon zu kommen. Das war nicht das Bild, das wir von einem preußischen Offizier hatten. Heute sehe ich das anders.“

Salterberg will mit der Vergangenheit abschließen

Als Salterberg nach dem Krieg von den Gräueltaten der Deutschen hörte, wurde ihm klar, einen Verbrecher beschützt zu haben. Mit der Rückkehr zur Wolfsschanze will er mit seiner Vergangenheit endlich abschließen.

„Eintritt zu den Ruinen streng verboten“ - nicht alle Besucher halten sich an diese Warnungen.

„Eintritt zu den Ruinen streng verboten“ - nicht alle Besucher halten sich an diese Warnungen. © dpa

Unsicher schiebt sich der rüstige Senior durch die Bunkerstadt. Damals wurden die Wege penibel von Bewuchs freigehalten, heute sind sie unter Laub und Gestrüpp kaum noch zu erkennen. Hitlers Führerbunker ragt noch immer gespenstisch in die Höhe. Die acht Meter dicken Wände sollten den Diktator vor Bomben schützen, die Städte im ganzen Reich verwüsteten. An den Seiten zeugen Risse von Sprengungen, das Dach ist eingestürzt. Deutsche Pioniere zerstörten die Bunker vor Kriegsende, um sie nicht den Russen zu überlassen. Die Wolfsschanze gleicht einem Betonfriedhof.

„Hier war es. Hier stand ich Wache!“ An einer Wegegabelung hält Salterberg inne. Der zwei Meter hohe Drahtzaun um den Sperrkreis 1a steht nicht mehr, die Baracken und Bunker liegen in Trümmern, aber Salterberg hat seinen Posten bildlich vor Augen. Der Mann scheint das Tor zum Sperrkreis förmlich sehen zu können. Auch den Pfosten, an dem sein Maschinengewehr lehnte, der Stahlhelm hing. Und den braunen Holzkasten, in dem er die Ausweise der Zugangsberechtigten aufbewahrte - vielleicht dreißig Meter von der berühmten Lagebaracke entfernt.

Kurt Salterberg als junger Wachsoldat während des Zweiten Weltkriegs.

Kurt Salterberg als junger Wachsoldat während des Zweiten Weltkriegs. © Jochen Linz

Damals ahnte der junge Wachsoldat nicht, wem er Zutritt zu Adolf Hitler gewährte: „Ich hatte Stauffenberg nie zuvor gesehen. Aber durch seine Augenbinde fiel er mir sofort auf.“ Der Verschwörer befand sich in Begleitung von mehreren Offizieren, die mit Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel durch das Tor schritten. „Es gab den Befehl, niemanden zu überprüfen, der mit Keitel kam - dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Also ließ ich sie durch.“

„Stauffenberg gab mir schweigend seinen Ausweis“

Im abgeschotteten Bereich, den Salterberg bewachte, bewohnte Hitler zu dieser Zeit den Gästebunker. In der Baracke daneben fand die tägliche Lagebesprechung statt. Mit den obersten Militärs führte der Diktator von hier aus seinen Angriffskrieg, der längst keiner mehr war. In der Ostfront klafften im Juli 1944 kaum zu stopfende Löcher. Die Rote Armee stand vor der ostpreußischen Grenze, kurz vor deutschem Gebiet. Hitler forderte frische Truppen, über deren Neuaufstellung Stauffenberg als Generalstabschef des Ersatzheeres bei der Lagebesprechung berichten sollte.

Der 20. Juli

Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg besaß als einer der wenigen Verschwörer, die direkten Zugang zu Adolf Hitler hatten, den Mut, das Attentat auszuführen. Bei der Lagebesprechung zum Kampf an der Ostfront zündete Stauffenberg am 20. Juli 1944 im Führerhauptquartier Wolfsschanze in Ostpreußen einen Sprengsatz mit Zeitzünder. Die Mitverschwörer in Berlin sollten Hitlers Tod für einen Regierungssturz nutzen. Weil die Lagebesprechung um dreißig Minuten vorverlegt worden war, schaffte es Stauffenberg nur, einen von zwei Sprengkörpern zu zünden. Hitler überlebte das Attentat. Stauffenberg und fünf weitere Putschisten wurden noch am gleichen Tag im Berliner Bendlerblock verhaftet und erschossen.

„Schon nach wenigen Minuten verließ er die Baracke wieder. Ohne Koppel, ohne Kopfbedeckung. Es kam vor, dass ein Offizier irgendeinen Bericht vergessen hatte, den er für die Besprechung rasch holte“, weiß Salterberg. Jetzt kontrollierte er ihn. „Stauffenberg gab mir schweigend seinen Ausweis, und ich konnte erstmals seinen Namen lesen. Im Nachhinein fiel mir auf, dass er dabei sehr ruhig war. Keine Spur von Hektik. Er bog schließlich um eine Kurve und ich verlor ihn aus den Augen.“

Kurt Salterberg

Kurt Salterberg in den Überresten der Wolfschanze, an der Stelle des Attentats vor einer Gedenktafel, die an den Widerstand erinnert © Linz/PiLi

Fünf oder zehn Minuten später, sagt Salterberg, brach das Chaos aus. Stauffenbergs Sprengstoff explodierte inmitten der Lagebesprechung: „Die Druckwelle schleuderte Hitlers Adjutanten Otto Günsche aus dem Fenster. Es gab eine dichte Staubwolke, Papierfetzen und Holzteile flogen umher. Verwundete schrien um Hilfe, andere bangten um Hitler und riefen nach ihm. Ich stürzte zum Fernsprecher und benachrichtigte die Wache West, die Alarm auslöste. Aus allen Richtungen rannten jetzt Offiziere, Sanitäter, auch Hitlers Arzt Karl Brandt herbei. Erstmals öffnete ich das große Haupttor zum Sperrkreis und ließ jeden, von dem ich glaubte, dass er helfen könne, ohne Kontrollen rein.“ In diesem Augenblick fuhr Stauffenberg im offenen Kübelwagen unmittelbar am Tor vorbei. „Er stand aufrecht auf der Beifahrerseite. Auf den Gedanken, dass er etwas mit der Explosion zu tun hat, bin ich in dem ganzen Tumult gar nicht gekommen.“

Es dauerte noch etwa fünf Minuten, da humpelte Hitler, gestützt von Günsche und Keitel, aus der verrauchten Tür. „Sie gingen ein Stück, drehten sich um und Hitler starrte minutenlang auf die Baracke. Die Hände bluteten, seine Hose hing ihm in Streifen um die Beine. Er stand unter Schock.“

Nazis ermordeten 200 angebliche Beteiligte

Kurt Salterberg kniet vor den Resten der Lagebaracke nieder. Das Fundament ist erhalten geblieben. Mit seinen Fingern streicht er über eine bronzene Platte, die zum 60. Jahrestag des Attentats aufgestellt wurde. „In Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ ist auf ihr zu lesen. Allein 200 Widerstandskämpfer brachten die Nazis im Zuge ihrer Ermittlungen zum Attentat am 20. Juli als angebliche Mittäter oder Mitwisser um.

Reichsmarschall Hermann Göring (helle Uniform) und der Chef der „Kanzlei des Führers“, Martin Bormann (l.), begutachten die Zerstörung im Raum der Karten-Baracke im Führerhauptquartier Rastenburg.

Reichsmarschall Hermann Göring (helle Uniform) und der Chef der „Kanzlei des Führers“, Martin Bormann (l.), begutachten die Zerstörung im Raum der Karten-Baracke im Führerhauptquartier Rastenburg, wo Oberst Stauffenberg am 20. Juli 1944 eine Sprengladung zündete, mit der Absicht, Hitler zu töten. © picture alliance / dpa

Die Untersuchungen begannen am gleichen Tag: „Nachts um 24 Uhr wurde ich vom Reichssicherheitsdienst verhört. Sie wollten genau wissen, was ich gesehen hatte“, sagt Salterberg. Zu diesem Zeitpunkt war Stauffenberg längst enttarnt. Und noch während des Verhörs wurde er in Berlin durch ein Standgericht erschossen.

Mit geneigtem Kopf schlendert Salterberg zum Parkplatz. Noch einmal blickt er zurück zu den Bunkern, steigt dann in den Reisebus. „Von hier ist viel Leid in die Welt getragen worden. Ich habe es nicht gesehen. Ich habe es einfach nicht gesehen“, flüstert er.

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