Vor 33 Jahren: Mord an Hertie-Mitarbeiterin (✝36) aus Werne Absurde Lügengeschichten vor Gericht

Nach 16 Jahren: Wie Zigarettenkippen einen Cold Case aus Lünen aufklärten
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Es ist ein kalter und regnerischer Tag, dieser 22. Februar 1991. Angelika R. will zurück nach Hause fahren. Zurück nach Werne, zu ihrem Ehemann. Sie ist froh über den frühen Feierabend. Schließlich fühlt sie sich leicht erkältet, hat sich aber trotzdem dazu gezwungen, zur Arbeit zu gehen, pflichtbewusst, wie Freunde und Familie sie später beschreiben. Doch die 36-Jährige, die im Lüner Kaufhaus Hertie als Büroangestellte arbeitet, kommt nie zu Hause an. Um 14 Uhr verlässt sie das Büro. Einige Stunden später ist sie tot.

Angelika R. wurde entführt und vergewaltigt, wie sich herausstellen sollte. Anschließend schlug ihr der Täter mit einer Sektflasche dreimal auf den Kopf. Ihr Schädel brach an diesen drei Stellen, wie sich Martin von Braunschweig an die Polizeiberichte im Podcast „Ohne Bewährung“ erinnert. Er ist seit etwa 25 Jahren als Gerichtsreporter im Einsatz und hat den späteren Prozess in den Jahren 2006 und 2007 hautnah miterlebt. Zusammen mit Nora Varga (Ruhr Nachrichten) und Alicia Theisen (Radio 91.2) erzählen er und sein Kollege Jörn Hartwich im Podcast von den spannendsten Kriminalfällen und berichten von den Gerichtsprozessen.

Auto taucht am Abend wieder auf – ohne Angelika

Angelika R.s Ehemann wartet an diesem 22. Februar 1991 daheim und ahnt nichts. Irgendwann macht der Mann sich Sorgen, geht zur Polizei. Am späten Abend taucht das Auto der Wernerin, ein gold-metallic-farbener VW Scirocco, wieder auf. Der Vater von Angelika findet es auf dem Pfarrer-Bremer-Parkplatz in Lünen. „Das Auto war von außen total dreckig, es sah aus, als sei jemand mit ziemlich hohem Tempo durch Matsche gefahren“, berichtet Martin von Braunschweig im Podcast. „Und im Fußraum fanden sich sieben Zigarettenkippen – Marke Marlboro.“ Außerdem kam die Zahl auf dem Kilometerzähler dem Ehemann von Angelika R. merkwürdig vor. Ganze 300 Kilometer standen dort. Eigentlich stellten er und Angelika R. diesen jedes Mal beim Tanken auf null zurück, hatte er damals erklärt. Und getankt hatten sie zuletzt an diesem 22. Februar 1991. So musste der Wagen am Tag der Tat über 200 Kilometer zurückgelegt haben.

Eine Schlagzeile aus der Zeit kurz nach dem Verschwinden von Angelika R.
Bereits einige Tage nach der Tat gab es in der lokalen Berichterstattung erste Gerüchte um mutmaßliche Täter. © RN Archiv

Niemand wusste also, was mit Angelika R. passiert war. Wurde sie Opfer eines Verbrechens? Oder gar einer Beziehungstat? Angelika R.s Mutter war nämlich lange unsicher, ob ihr Schwiegersohn nicht doch etwas mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun hatte, weiß Martin von Braunschweig. Und auch die Polizei habe anfangs gegen den Ehemann ermittelt, da sie eine Beziehungstat nicht ausschließen konnte. „Der Mann hatte aber ein Alibi, sodass sich das schnell erledigt hat.“

Das Porträt eines Mannes. Im Hintergrund sind Grünflächen zu sehen.
Martin von Braunschweig verfolgte den Prozess gegen den Mörder von Angelika als Gerichtsreporter für die Ruhr Nachrichten. © Jochen Tack

1992 finden Waldarbeiter eine Leiche in Fröndenberg

„Anfang 1992 bekam eine Gartenbaufirma in Fröndenberg den Auftrag, Bäume und Büsche in einem Waldstück zu beschneiden“, erzählt von Braunschweig. „Und einer der Arbeiter hat sich in der Mittagspause ziemlich weit in diesen Wald hineinbegeben.“ Dort machte er einen grausigen Fund. Knochen und Kleidungsstücke, gegen die er mit seinem Fuß trat. Dann rollte der Schädel hervor. Es stellte sich heraus: Das war der Schädel von Angelika R. Das bestätigten auch die Überbleibsel von Kleidung, ihre Handtasche und die Papiere, die die Polizei in dem Waldstück fand. Nun war auch klar, warum der Scirocco so viele Kilometer auf der Uhr hatte.

„Nach einem Jahr im Wald war die Leiche natürlich schon fast vollständig verwest“, erinnert sich von Braunschweig. „Die Todesursache konnten die Ärzte aber trotzdem ziemlich leicht feststellen. Denn der Schädel war an drei Stellen gebrochen.“ Ehe die Untersuchungen ergaben, dass die Tatwaffe eine Sektflasche war, dachten die Ermittler an einen Hammer, so von Braunschweig.

Täter viele Jahre später überführt

Doch bis die Ermittler eine Spur haben, sollen 15 Jahre vergehen. Der Fall wird zum sogenannten Cold Case, einem ungeklärten Kriminalfall. Ehe 2006 die DNA-Analyse der Polizei zur Ermittlung eines Tatverdächtigen verhilft. „1991 hatte das noch nicht so eine große Rolle gespielt“, erinnert sich Gerichtsreporter Martin von Braunschweig im Gespräch mit dieser Redaktion. Das Landeskriminalamt NRW begann tatsächlich im Jahr des Mordes an Angelika R. erstmalig in der Strafverfolgung, mit DNA-Analysen zu arbeiten, wie Pressesprecherin Maren Menke auf Anfrage mitteilt. „Die Einführung der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) war eine wichtige Weiterentwicklung bei DNA-Analysen. Diese Methode ermöglicht eine Vervielfältigung von kleinsten Mengen DNA – es kann schon aus einer einzigen Körperzelle ein DNA-Identifizierungsmuster erstellt werden“, erklärt sie weiter. Sprich: Ein Fingerabdruck oder ein minimaler Speichelabdruck genügt, um Spuren am Tatort zu hinterlassen – den sogenannten „genetischen Fußabdruck“.

Heutzutage reiche bereits die Berührung eines Gegenstands aus, um anhand dessen die resultierenden DNA-Spuren zuordnen zu können, so Menke.

Eine Person nimmt ein DNA-Probengefäß aus einem Behälter.
Seit 1991 nutzt das Landeskriminalamt NRW die DNA-Analyse zur Ermittlung von Verbrechen. © picture alliance/dpa

Doch was genau brachte die Ermittler im Fall von Angelika R. auf die richtige Spur? Zur Erinnerung: Da gab es ja die Zigarettenkippen, die die Polizisten 1991 im Auto von Angelika R. entdeckten. „Es hat 15 Jahre gedauert, bis ein Polizeicomputer einen Treffer ausspuckte“, weiß von Braunschweig. Und das nur, weil der Täter im Rahmen eines anderen Ermittlungsverfahrens seine Speichelprobe abgeben musste, wie diese Redaktion im August 2006 berichtete.

Ein Auto steht auf einem Parkplatz. (Archivbild)
Im Wagen von Angelika R. lagen benutzte Zigaretten. Diese halfen später dabei, den Täter mittels DNA-Analyse zu ermitteln. (Archivbild) © Magdalene Quiring-Lategahn

Als Tatverdächtigen verhaftete die Polizei kurz zuvor den 37-jährigen Jörg K., der inzwischen in Koblenz wohnte. „Deine Vergangenheit hat dich eingeholt“, sollen die Beamten dem vermeintlichen Täter bei seiner Verhaftung gesagt haben. An der Haustür hätten sie dem Mann mitgeteilt, dass er eines Tötungsdelikts verdächtigt wird. Und dass sie seine DNA am Tatort gefunden haben. „Ach komm, ich habe damals mit so vielen gepennt, da kann ich mich gar nicht mehr richtig dran erinnern“, soll der Mann entgegnet haben – ein kleines Geständnis. „Ohne diese Äußerungen bei der Polizei wäre er wahrscheinlich nie verurteilt worden“, glaubt von Braunschweig.

Tatverdächtiger verstrickt sich in Lügengeschichten

Im Gerichtsprozess habe sich der Tatverdächtige dann in Lügengeschichten verstrickt, berichtet von Braunschweig weiter. In einer ersten Vernehmung habe er gesagt, er habe mit Angelika am 22. Februar 1991 im Hertie-Parkhaus in Lünen zufällig erst Blick-, dann Wortkontakt gehabt, erklärte der zuständige Kriminalhauptkommissar Ralf Rudolf 2007 im Gespräch mit der Redaktion. Jörg K. sei mit der Frau in deren Wagen in ein Waldstück bei Fröndenberg gefahren, dem späteren Fundort der Leiche. Dort sei es zu einer sexuellen Handlung gekommen. Plötzlich sei die Frau bewusstlos geworden und gestürzt. Er habe ihren Puls gefühlt. Er sei in Panik geraten. Dann sei er mit dem Wagen der Frau zurück nach Lünen gefahren und habe das Auto wieder im Hertie-Parkhaus abgestellt.

„Ich habe mein Geständnis unter Drogen abgelegt“

Dass all das nicht stimmte, wurde schnell klar. Angelika R. wurde von Zeugen im Prozess vor dem Dortmunder Schwurgericht (2006 bis 2007) als ordentliche und liebe Person beschrieben, auch als still und zurückhaltend. Affären mit anderen Männern seien für sie nicht infrage gekommen. Und dass ein Mann Kippen in ihrem Auto raucht? Auch das hätte sie nicht zugelassen.

Aber Jörg K. versuchte, den Richtern weitere Lügen aufzutischen. „Ich habe mein Geständnis unter Drogen abgelegt“, titelten die Ruhr Nachrichten am 3. Februar 2007. Damit bezog sich Jörg K. auf seine erste erfundene Geschichte. Doch auch das stimmte nicht. „Eine Alkoholfahne hätte ich gerochen. Ich saß schließlich fast zwei Stunden lang neben ihm im Auto“, sagte ein Polizist, der bei der Verhaftung dabei war und in den Zeugenstand gerufen wurde.

Lebenslang hinter Gitter

Am Ende halfen Jörg K. die erfundenen Geschichten nicht weiter. Und auch nicht die Aussage einer seiner Schwestern vor Gericht, mit der er jahrelang keinen Kontakt hatte. Sie behauptete, eine Astrologin zu sein und in Visionen gesehen zu haben, dass ihr Bruder nicht der Täter sei, wie die Ruhr Nachrichten am 22. Juni 2007 aus dem Gerichtssaal berichteten. „Ich habe die Sterne gefragt, und sie haben mir gesagt, dass es ein dunkelhaariger Mann gewesen ist – mein Bruder war nie dunkelhaarig“, erklärte die Schwester.

Ein Mann sitzt auf einer Anklagebank. (Symbolbild)
Vor dem Dortmunder Schwurgericht werden regelmäßig Straftäter verurteilt. So auch 2007 der Mörder von Angelika R. (Symbolbild) © Martin von Braunschweig

Am 22. September verkündeten die Dortmunder Richter schließlich ihr Urteil. Jörg K. musste für seine Taten ins Gefängnis, lebenslänglich. „Die Akte ist vielleicht zugeklappt, geschlossen ist sie für uns nie“, sagte damals die Frau von Angelika R.s Bruder. Immerhin habe die Familie allmählich den Weg zurück in die Normalität gefunden.

Täter auf Bewährung freigelassen

Und der Täter? Jörg K. befindet sich inzwischen wieder auf freiem Fuß, wie die Staatsanwaltschaft Dortmund auf Anfrage mitteilt – auf Bewährung wohlgemerkt. „Er wurde am 30. November 2022 aus der Haft entlassen“, erklärt Pressesprecher Henner Kruse. Hintergrund seien die Paragrafen 57 und 57a des Strafgesetzbuchs (StGB). Um auf Bewährung bei einer „lebenslangen“ Haftstrafe freigelassen zu werden, muss der Täter mindestens 15 Jahre in Haft gewesen sein. Außerdem muss die besondere Schwere der Schuld ausgeschlossen werden. Ebenso dürfe durch die Freilassung die Sicherheit der Allgemeinheit nicht gefährdet werden, betont Henner Kruse. Das prüfe die Staatsanwaltschaft durch Stellungnahmen der zuständigen Justizvollzugsanstalt und externer Sachverständiger.

Die Dauer der Bewährungszeit beträgt laut StGB fünf Jahre. Formell lässt die Strafaussetzung zur Bewährung den Schuld- und Strafausspruch bestehen. Nur die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wird ausgesetzt.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist zum ersten Mal am 1. August 2024 erschienen, wir haben ihn jetzt neu veröffentlicht.