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Weil Personal in Krankenhäusern fehlt, machen Patienten ihren letzten Atemzug oft allein
Pflegerin klagt an
Personalnot, Überforderung und ständig Angst, was zu übersehen: Sie könne ihren Patienten nicht gerecht werden, klagt eine Krankenpflegerin und gibt Einblick in den stressigen Klinikalltag.
Der Kaffee duftet, der Tee dampft. Sabine Müller, die ihren richtigen Namen aus Angst vor Konsequenzen nicht nennen will, hat für unser Gespräch eine wohltuende Atmosphäre geschaffen. So will sie auch ihre Patienten umsorgen. Doch das gelingt ihr im Klinikalltag nicht. Sabine Müller hat mich eingeladen, weil sie „Luft ablassen möchte und sich dringend etwas ändern muss“.
Sie war alleine im Nachtdienst eines Krankenhauses in der Region für zwei Stationen zuständig: „Diese Nacht werde ich nie vergessen. Ich hatte richtig Angst und bin jede Stunde durch jedes Zimmer.“ Kürzlich hatte sie in ihrer Schicht nachts alleine 12 Patienten, darunter vier Frischoperierte und zwei Pflegefälle. „Holen Sie sich Hilfe von der Nachbarstation“, hatte es geheißen. Da waren sie zu zweit für 35. „Der Druck ist groß“, sagt Sabine Müller. Pflegefälle alleine alle zwei Stunden drehen und lagern, ist kaum zu schaffen. Dazu Demenzkranke, die weglaufen. „Ich gehe frustriert nach Hause.“
Kaum Zeit für Nähe und Gespräch
Dabei hat die Lünerin ihren Beruf gewählt, weil sie Menschen zugewandt sein möchte. Das gelingt ihr selbst im Tagdienst kaum, wenn sie mitunter allein mit einer Schülerin auf der Station ist. Bei der Körperpflege der Patienten reicht es dann aus Zeitgründen oft nur für Hände und Intimbereich. Mehr mit ihnen sprechen, ihre Hand halten. Oder nach einer Krebsdiagnose mal in den Arm nehmen und einfach da sein. Das bleibt auf der Strecke. Es müsste mehr Personal geben. Aber das ist Mangelware geworden. Ihr Arbeitgeber beschäftigt inzwischen Altenpfleger, auch auf der Intensivstation. „Sie dürfen nicht alle Arbeiten übernehmen“, sagt Sabine Müller. Und dass dann vieles eben doch an den Krankenpflegern hängen bleibe.
Mich interessiert, wie die beiden Lüner Krankenhäuser das handhaben. Im St.-Marien-Hospital mit 592 Betten werden Altenpflegekräfte vor allem in der Geriatrie eingesetzt. „Das hat jedoch nichts mit Pflegenotstand zu tun“, erklärt Geschäftsführer Axel Weinand. Krankenhäuser müssten vermehrt Patienten mit gesundheitlichen Begleiterkrankungen wie Demenz behandeln. Hier seien Altenpfleger besonders geschult. Sie würden nicht anstelle von Krankenpflegern, sondern zusätzlich eingesetzt.

Das St.-Marien-Hospital aus der Vogelperspektive © Neubauer (A)
Die Klinik am Park hat 160 Betten. In Einzelfällen würden gelernte Altenpfleger beschäftigt. Es gehe um eine einstellige Zahl bei 150 Pflegekräften am Standort, erläutert Kliniksprecherin Susanne Janecke. Sie bringen spezielle Erfahrungen und Qualifikationen in der Versorgung von älteren Patienten mit. „Aus genau diesen Gründen setzen wir auch gelernte Altenpfleger im Intensivbereich ein, allerdings ausschließlich als Zusatzkräfte und nur für spezielle Aufgaben.“ Ab dem Jahr 2020 soll es eine generalisierte Pflegeausbildung von Kranken- , Alten- und Kinderkrankenpflegern geben, ohne die Aufteilung in Krankenhauspflege und Altenpflege.
„So zu arbeiten, macht keinen Spaß“
Den Beruf würde Sabine Müller nicht noch einmal wählen. „So zu arbeiten, macht keinen Spaß mehr.“ Von Pflegeschülern im 2. Ausbildungsjahr weiß sie, dass eine komplette Klasse mit 30 Leuten später nicht in der Pflege arbeiten will. „Das ist doch erschreckend.“ Aber vielleicht nicht verwunderlich: Die Lünerin erzählt von Demenzkranken, die auf der Intensivstation mit Medikamenten ruhig gestellt würden und später auf einer normalen Station auf Entzug wären. Sie schildert, dass sterbende Patienten mitunter alleine blieben. „Ich finde das ganz traurig. Wir waren auch nicht allein, als wir auf die Welt kamen, warum sollen wir allein gehen?“
Gewerkschafter spricht von „unerträglicher Situation“
Jochen Killing, 40 Jahre lang Pfleger auf einer Intensivstation in Norddeutschland und ehrenamtlich für die Gewerkschaft Verdi in Dortmund tätig, spricht von einer „unerträglichen Situation“. Es sei für die Pflegekräfte kaum auszuhalten, wenn sie trösten und helfen möchten, das aber nicht tun können. Bei Verdi meldeten sich Pflegekräfte nicht nur aus Kliniken, sondern auch aus Senioreneinrichtungen. „Sie sind ausgelutscht. Fragen Sie mal in psychosomatischen Rehakliniken, wie viel Prozent dort aus Pflegeberufen sind. Bestimmt 20 bis 30 Prozent“, meint Killing. Er selbst hatte in seiner Zeit als Krankenpfleger einen Hörsturz und ist zusammengebrochen. „Ich kenne das gut.“
Viele ihrer Kollegen seien mit den Nerven fertig, sagt auch Sabine Müller. Der Krankenstand sei hoch, das Pflichtbewusstsein aber auch. „Der Laden läuft, es springt immer jemand ein. Aber irgendwann können auch die nicht mehr.“ Längst greifen Kliniken auf Fachkräfte aus Zeitarbeitsfirmen zurück. „Bei uns sind sie auf der Intensivstation“, sagt Sabine Müller. Sie wären mal vier Wochen hier und da, müssten nicht mal eben Lücken stopfen, würden nicht aus dem Frei gerufen und noch besser bezahlt. Für Pflegekräfte eine lukrative Alternative.
Honorarkräfte von Zeitarbeitsfirmen
Im St.-Marien-Hospital seien bisher keine Honorarpflegekräfte von Zeitarbeitsfirmen eingesetzt worden, so Weinand. Er sagt, „die angeblich bessere Bezahlung wird viel kolportiert, hält aber einer sachlichen Prüfung nicht stand.“ Denn in der Regel würden Zeitarbeitsfirmen keine Leistungen zur betrieblichen Altersversorgung und auch kein Weihnachts- und Urlaubsgeld zahlen.

Die Klinik am Park gehört seit 2010 zum Klinikum Westfalen. © Beate Rottgardt
In der Klinik am Park hingegen sind von Dienstleistern vermittelte Pfleger und Ärzte tätig. Suanne Janecke erklärt: „Sinn macht das dort, wo kurzfristig Mitarbeiter ausfallen und Engpässe entstehen.“ Allerdings seien extern vermittelte Beschäftigte auf Zeit nur die zweitbeste Wahl. Ziel sei es ausnahmslos, alle Pflegekräfte selbst einzustellen. Zur Bezahlung sagte sie, die Klinik würde den Vermittler bezahlen und kenne die Arbeitsverträge nicht. Dienstleister berechneten aber üblicherweise mehr als normal Beschäftigte bekämen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat auf die Probleme mit einer Mindestbesetzung reagiert: Ab 2019 darf eine Pflegekraft auf der Intensivstation höchstens 2,5 Patienten und in der Nachtschicht 3,5 Patienten betreuen. Ab 2021 soll das Verhältnis von Patient zu Pflegekraft 2:1 und nachts 3:1 sein. In der Geriatrie und Unfallchirurgie gilt ab 2019 ein Verhältnis von 10:1 am Tag und 20:1 in der Nacht und in der Kardiologie von 21:1 (Tag) und 24:1 (Nacht). Geregelt ist auch, dass überwiegend höher qualifizierte Kräfte da sein sollen.
Weinand spricht von „Mogelpackung“
Für die Krankenhäuser gibt es gute Nachrichten: Die Kosten für das Personal werden ab dem Jahr 2020 vollständig auf der Grundlage eines Pflegebudgets vergütet. Das Pflegestellenförderprogramm wird fortgeführt und ab 2018 sollen Tarifsteigerungen komplett finanziert werden. Axel Weinand spricht aber dennoch von einer „Mogelpackung“. Denn mit der Einführung des Pflegepersonalstärkungsgesetzes soll der Pflegezuschlag entfallen. „Das heißt, die Krankenhausbudgets werden an anderer Stelle um 500 Millionen Euro pro Jahr dauerhaft gekürzt.“
Weinand fürchtet, dass es aufgrund des Fachkräftemangels problematisch wird, die vom Minister gewollten Mindestbesetzungen in der Pflege zu schaffen. Denn Spahn sagt auch: Wer zu wenig Pflegekräfte für zu viele Patienten hat, muss Betten abbauen. „Unausgegoren“ findet Weinand, dass die geforderte Mindestbesetzung nur für einige Bereiche gilt. Das könne zu Personalabzug an anderer Stelle führen.
Dass heute schon manche Kliniken in NRW Stationen oder OP-Säle wegen Personalnot vorübergehend schließen müssen und Mitarbeiter überlastet sind, weiß auch Ludger Risse, Vorsitzender des Pflegerates NRW. Mit Personaluntergrenzen versuche man jetzt etwas zu retten, weil die Weichen in der Vergangenheit falsch gestellt worden seien. 2004 wurde die Finanzierung über Fallpauschalen (DRG) eingeführt.
„Zu wenig mit der Pflege geredet“
An der Ausgestaltung konnte die Pflege nicht mitwirken, weil sie in der Selbstverwaltung nicht vorkommt. Bei den Fallpauschalen gilt Pflege als Kostenfaktor und ärztliche Leistung als Erlösfaktor. „Ob bei Patienten ein hoher oder niedriger Pflegeaufwand nötig ist, ist für die Vergütung fast egal.“ Das habe landesweit zu einem Abbau von 50.000 Pflegestellen geführt. „Das größte Problem ist, dass zu viel über die Pflege bestimmt und zu wenig mit der Pflege geredet wird“, sagt Risse.
Jochen Killing sieht das Problem ebenfalls in der Einführung der Fallpauschalen. „Krankenhäuser sind gezwungen, Geld zu verdienen.“ Er spricht auch von zu geringen Investitionskosten seitens des Landes. „Ein Krankenhaus kann nur funktionieren, wenn es moderne Diagnostik anbietet.“ Kommen die Landesmittel nicht, würden Krankenhäuser Personal abbauen, um die Geräte kaufen zu können. Killing hat jüngst Streiks an den Unikliniken in Essen und Düsseldorf unterstützt. „Wir haben Erfolg gehabt. 180 Stellen mehr an beiden Kliniken.“ Er weiß, dass solch ein Protest nur an Unikliniken möglich ist. Doch Verdi habe es geschafft, Pflege zum Bundesthema zu machen.
Ludger Risse setzt sich für eine Pflegeberufekammer in NRW ein. Ob das auch die Pflegekräfte wollen, darüber werden im Oktober 1500 repräsentativ ausgewählte Mitarbeiter abstimmen. „Hätten wir 2004 schon eine schlagkräftige Pflegekammer gehabt, sähe die Situation anders aus“, glaubt Risse.
Zu wenig Wertschätzung
Sabine Müller wünscht sich mehr Wertschätzung für ihre Arbeit. Sie geht nach Jahrzehnten im Beruf mit 2200 Euro netto nach Hause, inklusive Nachtschichten und Wochenenddiensten. Einmal, als sie eingesprungen ist, sollte das auch bezahlt werden. Auf das Geld warte sie bis heute. „Ohne uns könnten die ihr Haus zumachen. Die müssten uns doch mit Samthandschuhen anfassen.“
Gerne würde sie nachts nicht mehr arbeiten. „Aber das geht gar nicht. Es ist ja kein Personal da.“
Stundenreduzierung in der Pflege ist ein Thema, das auch Minister Spahn kürzlich ansprach. Axel Weinand sagt, das habe es immer schon gegeben und sei meist aus familiären Gründen der Fall. In den letzten Jahren stelle er aber bei Vorstellungsgesprächen fest, dass jungen Leuten Freizeit sehr wichtig ist. Er hält das für einen allgemeinen Trend. In der Klinik am Park sei eine aktuelle Tendenz zu Stundenreduzierung in der Pflege nicht erkennbar, höchstens bei Eltern jüngerer Kinder. Entsprechende Lösungen würden unterstützt, sagt Susanne Janecke.
Der Tee ist inzwischen ausgetrunken, der Kaffeeduft verzogen. Sabine Müller macht sich gleich wieder auf den Weg zur Arbeit. Sie weiß schon jetzt, dass sie wieder nicht viel Zeit für ihre Patienten haben wird.
Lünen ist eine Stadt mit unterschiedlichen Facetten. Nah dran zu sein an den lokalen Themen, ist eine spannende Aufgabe. Obwohl ich schon lange in Lünen arbeite, gibt es immer noch viel zu entdecken.
