
Zwischen Ankunft, Alterstests, Ausbildung und Abschiebung
Junge Flüchtlinge in Lünen
Sayed ist Afghane und 16, als er nach Deutschland kommt. Es ist der 2. Dezember 2015 und so ziemlich der Höhepunkt von dem, was später „die Flüchtlingskrise“ genannt werden wird. Eine Situation, die beide Seiten an die Belastungsgrenze führt: Die Jugendlichen, die sich in der Fremde durchschlagen müssen. Und Ämter und Institutionen, die ihnen dabei helfen.
Sayed ist einer von vielen der sogenanntes UMAs, das steht für „unbegleiteter minderjähriger Ausländer“. Er kommt nach der entbehrungsreichen Flucht von Afghanistan durch Pakistan, den Iran, später die Türkei, Griechenland und schließlich München, Düsseldorf, Aachen nach Selm und Lünen. Über 50 Tage hat das gedauert. Sayed ist angekommen. Sein Traum: Zahnarzt werden.
Bis kurz vor Sayeds Ankunft sind die jungen Flüchtlinge noch immer in der Stadt betreut worden, in der sie zuerst ankamen. Das geht im November 2015 nicht mehr. Zu überlastet sind die Jugendämter entlang der Reiserouten der Flüchtlinge. Das Landesjugendamt in Köln übernimmt die geordnete Verteilung der Flüchtlinge nach einem bestimmten Schema. Sayed kommt in eine Unterkunft nach Selm, hat aber über das Café Neuland auch schnell Kontakte in Lünen. Nach Lünen kommen im November und Dezember 2015 noch 21 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, 2016 sind es laut Landesjugendamt 40. Das Lüner Jugendamt rüstet deshalb auf, stockt die Stellen für die Betreuung der jungen Flüchtlinge von 17,5 um 1,7 Stellen auf. Als Europa sich wieder abschottet, die Grenzen dicht sind, nimmt auch die Zahl der neu ankommenden Flüchtlinge wieder ab.

Einen Ausweis hat Sayed, als er in Deutschland ankommt, nicht bei sich. Das sei in Afghanistan einfach nicht so wichtig, sagt er. Sein Geburtsdatum aber kennt er: Der 11. Januar 1999. Das wiederum ist wichtig. Denn ob einer minder- oder volljährig ist in Deutschland – das ändert einiges: Wer minderjährig ist, darf in Deutschland bleiben, wird nicht abgeschoben. Wer minderjährig ist, wird betreut, in Wohngruppen, in Gastfamilien, bei Bedarf auch psychologisch. Ausländische Kinder haben die gleichen Rechte wie deutsche.
Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Als Deutschland 1992 die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert, macht die Bundesrepublik das nur unter Vorbehalt. Ausländische sollen eben nicht die gleichen Rechte wie deutsche Kinder erhalten. Abschiebehaft sollte weiter auch gegen Kinder und Jugendliche verhängt werden können. Diese sogenannte Vorbehaltserklärung ist mittlerweile zurückgenommen worden – allerdings erst 2010. Damit gilt Artikel 3 Absatz 1 der Konvention inzwischen auch in der Bundesrepublik ohne Einschränkung, sodass “bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorgan getroffen werden, …das Wohl des Kindes … vorrangig zu berücksichtigen ist”.

Mit Röntgenbildern können Ärzte im Zweifelsfall versuchen, das Alter von Flüchtlingen zu bestimmen. Die Methode steht in der Kritik. © picture alliance / dpa
Die Behörden checken bei der Ankunft dennoch ganz genau, ob Ausweis und Ausführungen der Flüchtlinge glaubwürdig sind. Der Landesverband Rheinland gibt im November 2017 extra eine Arbeitshilfe heraus: „Verfahren zur Altersfeststellung“, heißt das. Das geht los bei „Einsichtnahme in Ausweispapiere“, über „Qualifizierte Inaugenscheinnahme“ – es geht dabei um das äußere Erscheinungsbild, Urkunden, Akten und den Eindruck aus Gesprächen – und endet in „Ärztliche Untersuchung (in Zweifelsfällen).“ Es heißt darin: „Da stets ,im Zweifel für die Minderjährigkeit' zu entscheiden ist, ist die untere Grenze der Einschätzung maßgeblich.“
In medizinischen Untersuchungen bestimmen Ärzte anhand von Röntgenaufnahmen von Hand oder Schlüsselbein so gut es geht das Alter. „So gut es geht“, denn eindeutige Aussagen sind auch damit nicht möglich. Bei Sayed ist das nicht nötig. Seine Aussage ist auch so glaubwürdig. Er wird in einer Wohngruppe in Selm untergebracht, gemeinsam mit mehreren deutschen Jugendlichen, deren Familien die angemessene Betreuung nicht mehr leisten können.
Auch in Lünen sei die gemeinsame Betreuung von ausländischen und deutschen Kindern der Normal- und Idealfall, sagt Gilbert Grieger, Regionalleiter Lünen der Dülmener Kiwo Jugendhilfe. An der Vogelscher in Alstedde hat die Kiwo zwei Wohngruppen, eine auch im alten Krankenhaus in Brambauer. „Der Vorteil ist, dass die ausländischen Jugendlichen so gezwungen sind, deutsch zu sprechen und zu lernen“, sagt er. Melanie Fassbender, Bereichsleitung bei der Kiwo, ergänzt: „Auch die deutschen Kinder profitieren davon.“ Sie haben mit ihren Sprachkenntnissen viele Vorteile. Das gibt Selbstvertrauen. Und viel lernen können sie aus den Erfahrungen der Flüchtlinge auch.

Gilbert Grieger und Melanie Fassbender von der Kiwo Jugendhilfe, die junge unbegleitete Flüchtlinge auch in Lünen betreuuen. © Fröhling
Natürlich gebe es auch Konflikte: Manche junge Männer haben ein unzeitgemäßes Frauenbild, viele Erwartungen an den Sozialstaat und keine Bereitschaft, etwas dafür zu leisten. Andere wiederum integrieren sich schnell und erfolgreich. Ob deutsche oder ausländische Kinder: Alle haben viele schlechte Erfahrungen gemacht, tragen ihren „Rucksack“, wie Grieger das nennt. Manche leiden darunter, dass ihre Familien erwarten, dass sie hier alles für sie vorbereiten. Andere haben sich im Heimatland weggeschlichen. Sind in den Wald gegangen, Holz holen. Und nie mehr zurückgekehrt. Sie haben heute gar keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie.
Sayed auch nicht. Seine Eltern sind tot, ermordet in der afghanischen Provinz Kunduz von den Taliban. Deswegen ist er ja überhaupt geflohen. Nach Europa. „Ich wollte Sicherheit“, sagt er. Europa stand für Sicherheit. Dass Europa kein Land ist, sondern ein Kontinent, das lernt er erst in Deutschland. Er geht erst aufs Berufskolleg in Werne, besucht mittlerweile das Lippe Berufskolleg in Lünen. Er spricht schon gut Deutsch, lernt viel und gerne.
Lernen muss er auch den Umgang mit deutschen Behörden. Zuletzt, als er 18 wird. Dann nämlich muss er einen Asylantrag stellen. In Afghanistan sterben jeden Tag Menschen. Der IS, die Taliban – offiziell sind manche Regionen dort dennoch weiter „sicheres Herkunftsland“. Und während beim Bamf in Bremen wohl viele Asylanträge auch zu Unrecht positiv beschieden werden, wird Sayeds Asylantrag abgelehnt. Fertig. Vielen anderen Geflüchteten aus Afghanistan geht es ähnlich.
Die Dolmetscherin beim Bamf, sagt Sayed, habe gar nicht richtig übersetzt. Er ist aus Kundus nach Kabul „geflohen“, habe er gesagt. Er sei nach Kabul „gereist“, habe sie notiert. Abgelehnt, Stempel drauf – vier Wochen Zeit bis zur Ausreise. Sayed und sein Anwalt klagen gegen die Entscheidung: „Damit habe ich mir Zeit gekauft“, sagt er.
Diesen Weg gehen viele, beobachten auch Gilbert Grieger und Melanie Fassbender von der Kiwo. Weil die Gerichte so überlastet sind, dauere es oft Monate bis zur nächsten Entscheidung. „Die Jugendlichen haben teilweise richtig Angst vor den Gesprächen beim Bamf“, sagt Fassbender. Das Bamf ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das über die Zukunft der jungen Flüchtlinge entscheidet. Mitarbeiter von Kiwo oder Jugendamt betreuen sie deshalb auch in dieser Situation.
Mit dem 18. Geburtstag läuft grundsätzlich auch die Jugendhilfe aus. Die Geflüchteten müssen sich eine eigene Bleibe suchen. Das wird zunehmend schwieriger. In manchen Fällen müssen sie deshalb vorerst in eine Flüchtlingsunterkunft. Die UMAs können aber auch einen Antrag auf Hilfe für junge Volljährige stellen, sagt Thomas Stroscher, Leiter der Abteilung Jugend, Hilfen und Förderung bei der Stadt Lünen. Das geht bis 21. Und die Jugendlichen müssen mindestens eine Duldung haben.
Sayed wohnt weiter in einer WG in Selm. Er ist dankbar für all die Hilfe, die er in Deutschland bekommen hat. Für das Geld, die Betreuung, die Bildung. Für manches fehlt ihm aber auch das Verständnis. Er soll in den Ort zurückkehren, wo seine Eltern umgebracht worden sind? Auf den Rechtsweg gegen diesen Beschluss verlässt er sich nicht. Wer einen Ausbildungsplatz hat, darf nämlich bleiben. Sayed hat einen, er fängt im August bei Kanne an. Eigentlich wollte er immer Zahnarzt werden. Jetzt wird er erst einmal Bäcker.
Daten und Fakten:
Gebürtiger und auch immer noch dort lebender Dortmunder. Der der Stadt Lünen aus der „Außensicht“ viel abgewinnen kann – und doch immer wieder erstaunt ist, wie manches hier so läuft. Lieblingsthemen: Politik, Wirtschaft, Soziales.
