Ein Tag im Rettungshubschrauber Christoph 8 aus Lünen Einsätze mit Kindern haben „besondere Dramatik“

Schwere Unfälle und ein Großbrand: Ein Tag auf dem ADAC-Hubschrauber
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„Tag eins von eins. Ich bin aufgeregt, ein wenig nervös und trotzdem gespannt darauf, was mich heute erwartet, wenn ich euch begleite.“ Das wollte ich in der eigentlichen Morgenbesprechung sagen. Heute – es ist der 29. Oktober 2024 (Dienstag) – beginnt aber alles anders als an normalen Tagen. Statt des Frühstücks mit Besprechung schallt ein lautes Piepen durch die Station der ADAC-Luftrettung in Lünen.

Für Gerrit Lohmeier (leitender Pilot), Thomas Kade (Notfallsanitäter und Stationsleiter) und Eduard Mathejka (Notarzt) gehört das zum Alltag. Schnell ziehen sie sich ihre Helme auf und werfen ihre Jacken über. Jede Sekunde zählt. Auf ihrem Melder erscheint eine kurze Meldung mit den wichtigsten Stichpunkten. Für Außenstehende ist der Druck und die Schnelligkeit, mit der die Crew hier arbeitet, überwältigend. Im Hinterkopf der Gedanke: Hier stehen möglicherweise Menschenleben auf dem Spiel.

Ein gelber Hubschrauber hebt ab.
Sowohl beim Starten als auch beim Landen fliegt aufgrund der Windstärke des Hubschraubers das Gras in die Luft. © Jura Weitzel

Erster Einsatz: Kamen, 7.35 Uhr

Meldung: Ein Unfall in der Nähe der A1 Richtung Kamen.

Nur etwa vier Minuten vergehen, bis wir alle im gelben Hubschrauber startklar sind. Der Umgangston ist direkt und lässt keinen Spielraum für Interpretationen. Mathejka schließt meinen Helm an das Kommunikationssystem im Hubschrauber an.

Der erste Flug ist überfordernd. Über die im Helm integrierten Kopfhörer sind nicht nur die Stimmen der ADAC-Crew zu hören, sondern auch die Leitstellen. Über das Mikrofon am Helm antworten die Crew-Mitglieder auf Fragen. Was wie ein unverständliches Kommunizieren in Codewörtern scheint, ist für die Crew Routine und Struktur. Trotz der Kopfhörer wird ein dumpfes Dröhnen beim Starten bemerkbar. Es ist laut, alles vibriert. Ein Rettungshubschrauber wie der der gemeinnützigen ADAC-Luftrettung in Lünen wird immerhin mit bis zu 1000 PS angetrieben. Rund um den Landeplatz werden ganze Grasbüschel durch die Kraft der Rotorblätter umher geweht.

Innerhalb von Sekunden fliegt der Helikopter oberhalb des St.-Marien-Hospitals, das direkt an der ADAC-Luftrettungsstation Christoph 8 liegt. Kurz darauf aber die Entwarnung: Vor Ort handelt es sich lediglich um einen Blechschaden. „Moderne Autos mit eCall-System senden automatisch einen Notruf ab, wenn ein schwerer Unfall erkannt wird. In diesem Fall wurde schnell klar, dass unsere Hilfe nicht nötig war“, erklärt Gerrit Lohmeier.

Zweiter Einsatz: Dülmen, 7.58 Uhr

Meldung: Ein Zimmerbrand im Hochhaus in Dülmen am Haverlandweg.

Zurück auf der Station bleibt kaum Zeit zum Durchatmen. Schlag auf Schlag geht es weiter. Es folgt der nächste Einsatz. Mit einer Geschwindigkeit von 220 bis 230 km/h erreichen wir den Einsatzort in 16 Minuten – deutlich schneller als ein Rettungswagen. Für die Strecke zwischen der ADAC-Station und dem Haverlandweg in Dülmen bräuchte man mit dem Auto in guter Verkehrslage etwa 50 Minuten.

Von oben leuchtet die ganze Straße mit blauen Lichtern auf: Rettungswagen, Feuerwehrfahrzeuge und Polizeiautos. Der Einsatzort ist nicht zu verfehlen. Wir landen auf einer großen, nassen Wiese, direkt neben dem Hochhaus. Feuer oder Rauch riecht man beim Aussteigen des Hubschraubers nicht.

Rettungswagen und Feuerwehrwagen stehen auf der Straße. Im Hintergrund ist ein Hochhaus.
Etwa 80 Einsatzkräfte kümmerten sich um die Löschung des Brandes und die vielen Menschen, die im sechsstöckigen Hochhaus wohnen. © Laura Sobczyk

Am Einsatzort herrscht bereits reger Betrieb. Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst sind vor Ort, ein weiterer Hubschrauber der DRF-Luftrettung landet kurz nach uns. Insgesamt 80 Einsatzkräfte löschen den Brand und kümmern sich um die vielen Menschen, die im sechsstöckigen Hochhaus wohnen. Bei der Ankunft ist das Feuer jedoch schon gelöscht.

Obwohl viele Menschen dokumentiert werden müssen, verläuft alles geordnet und mit Ruhe. Ein Einsatzleiter teilt die Rettungskräfte ein, vieles ist beim Eintreffen des Rettungshubschraubers schon erledigt. „Ganz oft stimmen die Meldungen nicht exakt mit der Realität vor Ort überein“, erläutert Pilot Gerrit Lohmeier. Prinzipiell gehe man immer erst von der schlimmsten Situation aus.

Notarzt Eduard Mathejka kümmert sich vor Ort um die Betroffenen: „Es gab keine akute Lebensgefahr. Zwei Patienten mit Kreislaufproblemen wurden ins Krankenhaus gebracht. Wir haben zudem die Kohlenmonoxidwerte bei mehreren Menschen gemessen.“

Zwischen Klinik und Hubschrauber

Mathejka (58) fliegt seit 28 Jahren als Notarzt im gelben Engel mit. Durch eine Kooperation mit dem St.-Marien-Hospital wird ein Pool aus etwa 15 Notärzten gestellt. Jeder von ihnen hat im Schnitt mindestens zweimal im Monat einen Dienst auf der ADAC-Station. „Wir freuen uns sehr darüber, dass wir seit Jahrzehnten vielen Menschen in unserer Region in schwierigen Situationen helfen und damit auch vielen Menschen das Leben retten konnten“, antwortet Chefärztin Priv.-Doz. Dr. med. Christine Meyer-Frießem, Leitung der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerzmedizin des St. Marien Hospitals, auf eine Anfrage der Redaktion.

Ein Mann mit Helm und Mikrofon in einer gelben Weste sitzt in einem Hubschrauber.
Für Eduard Mathejka, Notarzt, sind die ADAC-Einsätze eine gute Abwechslung zur alltäglichen Arbeit im Krankenhaus. © Laura Sobczyk

Mathejka gefällt die Abwechslung zwischen der Arbeit im Krankenhaus und den Einsätzen mit dem Hubschrauber. „Ich könnte mir nicht vorstellen, nur eines von beidem zu machen. Da würde sonst immer etwas fehlen“, sagt der 58-Jährige. Für ihn war schon früh klar, dass er im Rettungsdienst arbeiten möchte. „Schon als kleines Kind habe ich immer geschaut, wenn Blaulicht vorbeigefahren ist. Im Prinzip ist es auch eine naive Begeisterung, die man am Anfang mitbringen muss. Erst im Laufe der Zeit merkt man, ob die Rettungsarbeit mit dem Hubschrauber einem liegt“, erinnert sich der Notarzt.

Einer der Einsätze ist ihm bis heute im Gedächtnis geblieben – und das, obwohl er nicht im Hubschrauber stattfand, sondern bodengebunden mit dem Rettungswagen. „Es war ein kleines Mädchen, das mich unglaublich an meine eigene Tochter erinnert hat. Dieser Einsatz liegt über 30 Jahre zurück, doch ich erinnere mich gut daran“, erzählt er, inzwischen wieder zurück an der Station in Lünen. Hier steht jetzt – endlich – das gemeinsame Frühstück an.

Mit Brötchen in der Hand startet die Besprechung, die eigentlich direkt zu Schichtbeginn hätte stattfinden sollen. Die Crewmitglieder tauschen sich aus, über ihre Stimmung und wichtige Aspekte des bevorstehenden Tages. Für kurze Zeit kehrt Ruhe ein.

Doch um kurz vor 11 Uhr schallt erneut ein lautes Piepen durch die Räume der Station. Es wirkt hektisch, für Außenstehende zumindest - aber mit dem dritten Einsatz gewöhnt man sich an das schnelle Reagieren. Und doch ist da wieder das mulmige Gefühl im Magen: Ein Handwerker einer Solarfirma ist bei der Arbeit neun Meter tief von einem Dach in der Parkstraße in Haltern gefallen.

Dritter Einsatz: Haltern, 10.53 Uhr

Meldung: Ein Mann vom Dach gestürzt.

Christoph 8 soll den Patienten transportieren. Vor Ort steht allerdings auch schon ein Rettungswagen, in dem der gestürzte Patient behandelt wird. Als Notfallsanitäter und Notarzt greifen Kade und Mathejka kurz nach der Landung zu einem Notfallrucksack und steigen in den Rettungswagen. Es ist hektisch. Es besteht der Verdacht, dass der Patient schwere innere Verletzungen haben könnte. Während Pilot Lohmeier außerhalb des Rettungswagens wartet, geht der Bruder des gefallenen Patienten nervös hin und her. Bei diesem Einsatz wird bewusster denn je: Das Leben dieser Familie hat sich gerade schlagartig verändert.

Statt mit dem Hubschrauber wird der Patient doch mit dem Rettungswagen transportiert. „Der Patient war gut versorgt und schon transportfähig vorbereitet. Wir hätten keinen echten Vorteil gehabt, nochmal umzuladen. Angesichts des unsicheren Wetters und der kurzen Fahrzeit war dies die bessere Wahl“, erklärt Kade, nachdem sie den Patienten an das Krankenhaus in Recklinghausen übergeben haben.

Ein Mann an einem Tablett neben einem gelben Hubschrauber.
Für Gerrit Lohmeier, leitender Pilot, war der Beruf schon seit seiner Kindheit faszinierend. © Laura Sobczyk

Vom Kindheitstraum zum Beruf

Pilot Gerrit Lohmeier (36), seit sechs Jahren bei der ADAC-Luftrettung, spricht ebenfalls von einem Kindheitstraum: „Als Junge habe ich die Hubschrauber des SAR-Dienstes in Hamburg verfolgt. Es war faszinierend, zu sehen, was die Piloten im Cockpit gemacht haben.“

Als einer von acht Piloten und Pilotinnen beim Christoph 8 arbeitet Lohmeier immer blockweise: fünf Tage Dienst, gefolgt von vier bis sechs freien Tagen. „Man darf schon sagen, dass die Arbeit Spaß macht. Wir sind immer im Team unterwegs und entscheiden gemeinsam“, betont er.

Grundsätzlich fliegt der ADAC-Hubschrauber von Sonnenaufgang (frühstens 7 Uhr) bis Sonnenuntergang. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch das Wetter. „Wir fliegen nur auf Sicht. Wenn es beispielsweise zu neblig ist, ist der ADAC-Hubschrauber an dem Tag nicht im Einsatz“, erklärt Lohmeier.

Wie schwierig es manchmal werden kann, kriegen wir auch heute zu spüren. Feiner Nieselregen behindert die Sicht, die Scheiben sind oft beschlagen. Durch die Schnelligkeit des Hubschraubers schießen viele kleine Regentropfen zu den Seiten. Es erfordert Konzentration und Genauigkeit, um diesen Hubschrauber – ob mit oder ohne Patient – sicher zu starten, zu fliegen und zu landen.

50 Jahre Christoph 8

Als eine von 38 ADAC-Stationen in Deutschland feiert der Christoph 8 am 23. Dezember 2024 sein 50-jähriges Jubiläum. Seit der Gründung im Jahr 1974 und der Übernahme durch den ADAC 2005 hat der Gelbe Engel bis einschließlich 2023 insgesamt 50.172 Einsätze absolviert. Für Thomas Kade und seine Kollegen sind diese Zahlen greifbare Beweise für die Bedeutung ihrer Arbeit. „Das zeigt, wie wichtig unser System ist. Hinter jeder Zahl steckt ein Schicksal“, sagt er. Thomas Kade (54), einer von drei Notfallsanitätern beim Christoph 8, ist seit 26 Jahren im Einsatz und hat dementsprechend etwas mehr als die Hälfte der Zeit miterlebt.

Ein Mann kommt aus einem Rettungswagen heraus.
Thomas Kade behandelte gemeinsam mit Mathejka den vom Dach gefallenen Patienten im Rettungswagen in Haltern. © Laura Sobczyk

Neben Einsätzen aus der Bergbauzeit oder Schicksalen einzelner Menschen findet auch er, dass Kindereinsätze oft in Erinnerung bleiben. „Da ist oft einfach eine besondere Dramatik bei. Als Vater, und ich bin einer, weiß man, wie es sich für die Eltern anfühlen muss“, sagt der Notfallsanitäter.

Für Kade prägen solche Erfahrungen auch den Alltag. „Wir kriegen die Dinge vorgelebt. Aufgrund meiner Erfahrungen betrachte ich bestimmte Risiken natürlich anders. Man lernt, wie wertvoll jede Minute ist und wie wichtig andere Menschen sind. Streit und Hektik nehme ich viel bewusster im Alltag wahr“, sagt er.

Die Einsätze sind körperlich und emotional fordernd, und doch arbeiten die Piloten, Notfallsanitäter und Notärzte tagtäglich professionell und retten Leben. Das hinterlässt bei allen Beteiligten Spuren.

Gegen 17.10 Uhr geht die Sonne unter und der gelbe ADAC-Hubschrauber wird auf der Plattform wieder in die große Halle gefahren. Bevor Gerrit Lohmeier, Thomas Kade und Eduard Mathejka wieder in ihre alltägliche Kleidung schlüpfen und in den Feierabend gehen, lassen sie den Tag Revue passieren und tauschen sich darüber aus, was an dem heutigen Tag gut oder schlecht gelaufen ist. Anders als am Morgen unterbricht kein Einsatz die Runde. So kann die Crew nach rund 10 Stunden Feierabend machen. Freizeit - bis zum Sonnenaufgang am nächsten Morgen.